Hallo Philipp,
dabei laesst du nur ausser acht, dass gerade diese Vielfalt
der Kommunikationswege eine Reizueberflutung bewirkt, in der
wesentliche Aussagen untergehen, waehrend sie in einem
einspurigen Medium erst recht zur Geltung kommen. Aussehen,
Sprachfehler, ein Muskeltick, Koerpersprache usw. vermitteln
gerade beim Erstkontakt oft ein Bild, das nicht dem inneren
Wesen eines Menschen entspricht. Die so gesammelten Eindruecke
ueberlagern die verbalen Aussagen, blocken eine weitere
Annaehrung ab.Wenn Du den letzten Satz so meinst, wie ich ihn verstehe, dann
tust Du mir Leid. Sicherlich können einem diese Punkte etwas
ablenken, jemand der aber deshalb aufgibt einen näher Menschen
kennenzulernen kann ich nicht verstehen.
Ich glaube, Kess hat etwas ganz anderes gemeint, das Du selbst zwar
angerissen, aber letztlich doch übersehen hast: Im persönlichen Dia-
log werden - wissenschaftlich erwiesen - 80% der Informationen non-
verbal übertragen, d.h. das meiste dessen, was gesagt wird, geht als
Einzelaspekt unter und wird gleich zusammen mit der optischen und
weiteren Wahrnehmungen als Gesamteindruck verarbeitet.
Das hat sicher grosse Vorteile - aber auch den schwerwiegenden Nach-
teil, dass eigentliche Informationen "verschluckt" werden. Und es
gibt Menschen, die sich genau diesen Umstand zu nutze machen, die
eigentliche Information zu "maskieren", um später darauf verweisen
zu können, man habe es doch gesagt.
Ich denke als Paradebeispiel an einen ganz bestimmten Politiker, der
mich immer wieder damit verblüfft, wie er mit der Mine des gutmüti-
gen Grossvaters am Rednerpult sitzt und der Öffentlichkeit erklärt,
dass die gerade beschlossenen sozialen Grausamkeiten nur zu unser
aller Bestem sind.
Solche Dinge sollten einem Menschen, der kein Kind mehr ist nicht
mehr erschrecken.
Gegenbeispiel: Du gehst durch die Stadt, bis down, keiner greifbar,
dem Du Deinen Mist vor die Füsse kotzen kannst. Du kommst an einem
Strassencafé vorbei - was machst Du?
a) einen leeren Tisch suchen, weil Du Deine Ruhe willst
b) Dich zu jemanden setzen, der Dir optisch zusagt oder ein nettes
lächeln auf der Lippe hat
c) Dich zu jemandem sitzen, der Dir zu alt, zu hässlich ist, "unan-
genehme" Eigenschaften hat (zB raucht) und mit ihm ein Gespräch
anfangen, weil Du weisst, dass es ein grundehrlicher Mensch und
eine aufrichtige Seele ist?
Ich tippe mal auf a) und b), und bin fast bereit zu wetten, dass es
nicht c) sein wird. Wir alle lassen uns von Dingen "abschrecken",
und das schon instinktiv.
Der Vergleich mit dem Zivildienst "hinkt" ein bisschen, denn wenn man
mit alten, kranken, behinderten Menschen oder auch mit behinderten
Kindern zu tun hat, lernt man zunächst "nur", eine gesellschaftliche
Tabugrenze zu überschreiten, ist von dem "exotischen" nicht mehr so
gefangen und legt Berührungsängste ab.
Die tief in uns allen sitzenden Selektionskriterien werden dabei je-
doch selten komplett ausgeschaltet.
»» Es ist immer wieder eine Überraschung eine Onlinebekannt-
schaft im reellen Leben kennzulernen, genau im diesen
Augenblick wird einem bewusst wie stark das Netz begrenzt
ist.
Das ist aber kein Fehler des Netzes, sondern ein Streich, den uns
unsere Psyche spielt. Informationen, die wir nicht haben, aber ei-
gentlich bräuchten, um uns ein "Bild" zu machen, werden aus Wün-
schen und Wunschvorstellungen heraus ergänzt; oder ob mal wieder
Gabi Hauptmann zu zitieren: Wir "träumen" uns einen Menschen, den wir
vielleicht aufgrund der Art, wie er kommuniziert, denkt, agiert, nett
und sympatisch finden. Und da dieses Wunsch-meets-Wirklichkeit nicht
ganz vorbelastet von statten geht, enttäuscht oft weniger der andere
(der ist nämlich so, wie er ist und wie er immer war), sondern unsere
eigene Vorstellung wird über den Haufen geworfen.
Das kann sein. Es kann aber auch sein, dass du feststellst,
wie tief du bei einer online-Bekanntschaft an den Aeusser-
lichkeiten eines Menschen vorbei zu seinem Wesen vorgedrungen
bist. Wenn dir dies eines Tages geschieht, dann denke einfach
mal an diese Worte zurueck, denn...
Hier hat Kess recht, aber: Es kommt eben genau diese oben beschrie-
bene Komponente hinzu - und dann ist es eine Frage, mit welcher Ziel-
setzung halte ich den Kontakt zu diesem Menschen: Weil ich einen
"Freund" will, einen Menschen, mit dem ich auf gleicher Wellenlänge
liege? Dann ist es weniger "schlimm" und leichter zu handeln als wenn
ich mich zB in einen Onlinekontakt "verguckt" habe und er/sie nun
gar nicht zu meinem "Beuteschema" gehört... und natürlich davon ab-
hängig, wie sehr die eigene Wunschvorstellung das tatsächliche Bild
des anderen "verfälscht" hat.
Ich habe nie abgestritten, dass man einzelne Züge einer Persön-
lichkeit auch sehr gut im Netz erkennen kann.
Ich denke fast - und damit krasser Widerspruch zu Deinem Ausgangs-
posting -, dass man im Netz die Leute schneller "besser" kennenlernt,
weil sie sich eben nicht "Konventionen" unterwerfen und in der Summe
doch offener und direkter agieren, u.a. deshalb, weil ich einen
"virtuellen Raum" (sorry Stefan :-) jederzeit verlassen oder ihm den
Rücken kehren kann (an meinem Arbeitsplatz muss ich wieder auf-
tauchen :-) und weil die direkte Reaktion - und damit auch der direkte
Abputzer, zumindest im ersten Schritt, ausbleiben.
Ich denke man kann über nette Bekanntschaften und Aner-
kennung, Respekt,.. hinaus nicht Dinge wie Liebe oder
ähnlich starke persönlichen Verbindungen erfahren kann.
Auch wenn man sich lange in einer Community aufhält.
Doch, kann man. Wobei gerade "Liebe" und "Freundschaft" zuallererst
Definitionsfragen sind; jeder stellt andere "Ansprüche". Aber genau
die Tatsache, dass dieses Medium eben eindimensional ist und keine
ablenkenden Faktoren dazu kommen, ermöglicht eher den Blick auf das
Wesentliche - bis hin zum Blick in das Innere des anderen.
Man liebt einem Menschen als ganzes und nicht nur die Teile der
Persönlichkeit, (die man schon im Netz kennengelernt hatte.)
Holla, das kann man IRL an jeder Strassenecke beobachten: Man liebt
einen Menschen, einen Partner - und doch wirkt er/sie auf einmal
nicht mehr attraktiv oder hat kleine Macken angenommen - sich als
"Mensch" jedoch nicht zum negativen verändert - und wird zum Ab-
schuss freigegeben. Es kommt eben immer darauf an, wieviel ich den
Menschen liebe und wie sehr seine Verpackung... (wobei ich nicht
behaupten will, gegen optische Reize gefeit zu sein).
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