Hallo Frye,
Da werden Websites auf XML umgeschrieben, die daraus keinerlei Vorteile ziehen, aber hinterher 3mal langsamer laufen. Da werden umfangreiche DTDs für Daten erstellt, die in 20 Jahren kein anderes System verarbeiten wird. Aber auch wenn ich ab und zu Gegenstimmen höre, scheint der Grossteil der Programmierer, Designer, etc. im XML-Fieber zu schwelgen.
Es ist in der Tat ein Hype, den ich ebenfalls kritisch betrachte. Ich glaube, solche Hypes haben auch damit zu tun, dass mehr und mehr Leute ueber IT-Kernkenntnisse verfuegen ("Informatikerschwemme"). Und aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass viele Informatiker dazu neigen, Problemstellungen "oversized" zu betrachten. Benoetigt wird ein einfaches "running system" ohne viel Aufhebens, aber aus der Muecke wird dann ein riesiger Elefant gemacht, und alles, was die informatische Gegenwart zu bieten hat, wird als Geschuetz aufgeboten, um die Problemstellung zu loesen: und XML ist fast immer dabei ;-)
Sicher - nicht selten kommt auch der Fall vor, wo man zunaechst eine Nummer zu klein gedacht hat, und wo sich dann heraus stellt, dass eine Anwendung noch mal voellig neu erstellt werden muss, weil die schlichten und proprietaeren, womoeglich noch schlecht dokumentierten Konzepte und der Spaghetti-Code des bisherigen "running systems" nicht mehr den Anforderungen genuegen. Dann muss in der Tat ein zweites mal investiert werden. Genau vor dieser Neu-Investition warnen die Propheten des XML-Hype gerne. Allerdings habe ich sowohl beruflich als auch hier im SELF-Projekt die Erfahrung gemacht, dass solche Neu-Investitionen von Zeit zu Zeit nicht unbedingt schlechter sind (bestes Beispiel ist das Forum hier: es ist mittlerweile drei mal neu programmiert worden, und diese Entwicklung ist ihm gar nicht schlecht bekommen). Natuerlich sollte man bei der Entwicklung einer Anwendung, eines Web-Projekts oder was auch immer stets versuchen, moegliche kuenftige Anforderungen mit einzukalkulieren. Aber die Vorstellung, einmal eine fuer alle Zeiten gueltige Loesung zu schaffen, ist meistens doch illusorisch. Man muss auch akzeptieren, dass Anwendungen irgendwann voellig neu programmiert und in ein anderes System transferiert werden muessen, mit all der Handarbeit und unangenehmen Begleiterscheinungen, die damit verbunden ist.
Es ist wohl der alte Streit zwischen den beiden Prinzipien "top down" und "bottom up". Viele Profis, egal ob in der Betriebswirtschaft oder in der Informatik, predigen das "top down" Prinzip, also einmal an alles zu denken, alles zu beruecksichtigen, alles festzulegen, und dann anhand davon alles gnadenlos durchzuziehen. Die "bottom up" Methode wird dagegen vielfach als chaotisch, unstrukturiert und unprofessionell empfunden, weil sie sozusagen der natuerlichen Unreflektiertheit und dem gedankenlosen Hineinschlittern in die Entwicklung entspricht. Aber in der Praxis hat sie durchaus ihr Recht, und sie funktioniert. Sie zum allein seligmachenden Prinzip zu erklaeren waere sicher genau so unvernuenftig wie das Gegenteil. Aber die Vorherrschaft des Topdown-Denkens, dem letztlich auch solche Dinge wie der uebertriebene XML-Hype zuzuschreiben sind, sollte ruhig mal in Frage gestellt werden duerfen.
So - das war jetzt zwar ein bissschen vom Thema abschweifend, aber mit etwas Philosophie am Morgen kommt man doch gleich besser in den Tag ;-)
viele Gruesse
Stefan Muenz