Mathias Bigge: J. Weizenbaum

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Hi Ludger,

Physiker arbeiten mit physikalischen Modellen. Diese werden von Zeit zu Zeit ersetzt und gegen andere ausgetauscht, wenn 1.) ein Widerspruch nachgewiesen wird oder 2.) ein Experiment das bisher genutzte Modell widerlegt.

Jahrhundertelang hat sich die Scholastik mit der Frage beschäftigt, wieviel Engel auf einer Nadelspitze Platz haben, ob Gott einen Stein schaffen könne, der so schwer sei, dass er ihn nicht wieder aufheben könne. In der Astronimie wurde darüber spekuliert, wie die Fixsterne befestigt seien. All diese Fragen wurden nicht beantwortet, die komplexen Hypothesen nicht widerlegt, man hat sich einfach nicht mehr damit beschäftigt. Was wissen wir heute noch über Engel?

Nun könntest Du Dich herausreden, das sei halt wissenschaftliche Vorgeschichte, heute laufe aber alles schön stringent nach der Popperschen Flasifikationsmethode ab. Das ist interessanterweise falsch, übrigens auch in der Physik. Probleme werden nicht endgültig gelöst, Fragen endgültig beantwortet, Hypothesen widerlegt, bevor ein Paradigmenwechsel stattfindet. Häufig komen die Belege für neue Denkansätze erst lange nach der theoretischen Debatte. Neues Denken braucht also immer ein bisschen revolutionären Geist, auch in der Wissenschaft.

Es gibt dazu viel Literatur im Bereich Wissenschaftsgeschichte, ausgehend von Feierabend, wirklich ein spannendes Thema.

Ich habe gerade ein Buch von Hawkins gelesen, in dem er sich mit den Folgen aktueller Theorien für das Weltbild der Physik beschäftigt: Alles hoch komplex, widersprüchlich und voller spekulativer Hypothesen. Gut hat mir eine Hypothese gefallen, von der vor allem zu sagen ist, dass sie nach heutigem Stand der Wissenschaft nur mit einem Teilchenbeschleuniger von der Größe des Sonnensystems überprüft werden kann...

Wie sollen da Dissidenten eine Existenzberechtigung haben?

Wissenschaftlicher Dissident zu sein bedeutet, allgemein anerkannte Lehrmeinungen in Frage zu stellen, so wie Einstein und andere das Newtonsche Weltbild zerlegt haben, ohne Rücksicht auf Karrierefolgen oder politischen Druck. Dass dies in den Gesellschaftswissenschaften in besonderem Maße gilt, muss nicht erst dargestellt werden. Aber auch in anderen Wissenschaftsbereichen gab es im 20. Jahrhundert Revolten und Revolutionen, nicht nur im Stalinismus (gegen Lyssenko), auch in der Psychologie, der Geschichtswissenschfat und vielen anderen Bereichen.

Viele Grüße
Mathias Bigge