Mathias Bigge: Übersetzungen

Beitrag lesen

Hi Cheatah,

Obwohl ich des Englischen mächtig bin, lese ich doch lieber auf deutsch. Das geht schneller und verringert die Gefahr von Missverständnissen.
Im Zweifel *entstehen* dadurch Missverständnisse, die zu erkennen ohne das Original unmöglich ist.

Ich habe einmal einen Vortrag gehalten über Salman Rushdies Roman "Mitternachtskinder", der die Geschichte des unabhängigen Indiens darstellt. Der Roman beginnt so:

"Es war einmal ein kleiner Junge, der wurde in der Stadt Bombay geboren... Nein, so geht es nicht, ich kann mich nicht um das Dartum herummogeln: Ich wurde am 15. August 1947 in Dr. Narlikats privatem Entbindungsheim geboren."

Ein ziemlich raffinierter Romananfang, muss man sagen, denn hier wird auch das unabhängige Indien geboren, dessen Entwicklung das Leben des Romanhelden sinnlich begreifbar macht.

Thema meines Vortrages war aber auch der verdeckte Bezug auf die deutsche Literatur, vor allem auf Goethe und dessen Schilderung seiner Geburt in "Dichtung und Wahrheit" und die Persiflage darauf bei Günter Grass in der "Blechtrommel". Der unter einem glücklichen Stern geborene Goethe, der seine riskante Geburt aus der Perspektive gelungenen Lebens betrachtet steht dem Mitternachtskind gegenüber, das, unter luxuriösen Umständen geboren, vor einer ungewissen Zukunft steht.

Bei der Vorbereitung meines Vortrages kam mir der Gedanke, die Anfangswendung Rushdies als "Märchen und Wahrheit" im Unterschied zu Goethes "Dichtung und Wahrheit" zu interpretieren. Rushdie erschien mir als Autor, der der Realität nicht die klassische Dichtung (= Fiktion?) gegenüberstellt, sondern zusätzlich die Erzählfreude des orientalischen Märchenerzählers. Dabei erschien mir die Wendung von der Außenperspektive des Märchenerzählers ("ein Junge, der wurde") zur subjektiven Ich-Erzählung ("so geht es nicht, ich...") gleich in den ersten beiden Sätzen als besonders gelungen.

Nachdem ich mich eine ganze Weile an meiner wertguten Interpretationsidee erfreut und sie weiterentwickelt hatte, habe ich dann glücklicherweise ins englische Original geschaut:

"I was born in Bombay ... once upon a time. No, that won't do, there's no getting away from the date: I was born in Doctor Narlikar's Nursing Home on August 15th, 1947."

Natürlich sind wir alle darauf angewiesen, Texte aus fremden Sprachen in Übersetzungen wahrzunehmen. Dabei sind aber alle Detailanalysen mit Skepsis zu betrachten.

Viele Grüße
Mathias Bigge