Hallo,
Wer sind denn diese "gut Informierten", die trotz besseren Wissens trotzdem so eine Aussage tätigen? Wenn diese das wissen, daß BF nie erreicht werden kann aber trotzdem sowas (wahrscheinloch gegenüber Kunden) sagen, dann ist das noch schlimmer als wenn man es nur nicht besser weiß. Dann ist das schlichtweg eine Lüge, bzw. Kundenbetrug.
Der Begriff »Barrierefreiheit« ist ganz fundamental ein Hilfsmittel zur Bezeichnung eines komplexen Zusammenhangs, damit man ein griffiges Wort hat, um über das Thema zu kommunizieren. Wer von einem solchen theoretischen Begriff fordert, dass er sich selbst erklärt, muss letztlich jede Verschlagwortung ablehnen. Insofern halte ich diese andauernde Sprachkritik grundsätzlich für übertrieben kleinlich und praxisfern, so kann man nämlich alle denkbaren Begriffe kritisieren, ohne irgendwann zu einem Ende und einen besseren Begriff zu kommen. »Barrierearmut« und vergleichbare sprachliche Ungetümer sind nur scheinbare Alternativen.
Ich muss mir immer folgende Situation vorstellen, wenn jemand einmal wieder mit »Barrierefreiheit ist nicht erreichbar« ankommt: Ein Mensch aus einem autoritären, extrem repressiven Staat trifft einen Menschen aus einem freiheitlichen, parlamentarisch-demokratischen Staat. Beide engagieren sich für mehr Demokratie und Freiheit in ihren Ländern, der eine will Grundrechte sichern, der andere fordert basisdemokratische Partizipation und kritisiert die auch in seinem Land vorhandene, nur anders geartete Unterdrückung. Wie zynisch würde es der erstgenannte wohl finden, wenn der zweite immer dann, wenn der erste von seinem Engagement für Freiheit und Demokratie erzählt, entgegnen würde, er solle seine Begriffe verwerfen, denn es gebe Freiheit und Demokratie nicht, höchstens eine Annäherung? Er würde es als Affront auffassen. Einige gehen auf die Straße und schreiben sich »Freiheit« auf die Fahnen, andere Stubengelehrte werfen ihnen Stöcke zwischen die Beine, indem sie spitzfindig ihre Begriffe als Ideale abtun. Was bringt also eine solcher Hinweis sonst, wenn niemand bezweifelt hat, dass es Ideale sind?
Was nun die Bezeichnung von barrierefreien Seiten gegenüber Kunden angeht: Als was soll man Barrierefreiheit verkaufen? Welcher Begriff ist unanfechtbar, welcher Begriff bezeichnet alle notwendigen und möglichen Leistungen des Webdesigners, die mit dieser Thematik zu tun haben? Muss der Begriff allein dem Kunden vermitteln, dass die Seite nur nach den Möglichkeiten und dem Wissen des Webdesigners zugänglich ist? Wenn die Seite letztlich nicht barrierefrei ist, was ist sie? »Barrierearm«? Aber was heißt das, inwiefern ist das eine genauere Aussage als »barrierefrei«? Stattedessen »unter den-und-den Voraussetzungen angenehm benutzbar« oder »es wurden Vorkehrungen getroffen, um den-und-den Benutzern die einfache Bedienung und Lesbarkeit zu gewährleisten«? Was und wie darf der Webdesigner dem Kunden Zugänglichkeit versprechen? Woher weißt du, ob die Beratung so schlecht war, dass der Kunde glaubt, seine Seite sei nun perfekt zugänglich?
Mir würden höchstens Standards, Richtlinien und Zertifikate einfallen, die normativ festlegen, was Barrierefreiheit oder Barrierearmut oder Zugänglichkeit oder wie-auch-immer-man-es-nennen-will bedeutet. Aber selbst eine Seite mit WCAG-AAA-Konformität kann bekanntlich schwerwiegende Barrieren aufweisen. Ich sehe da keinen Ausweg und die gängige Sprachkritik bringt keine stimmigen Alternativen hervor.
Aus der WAI-Liste, in der sich die Experten zum Thema sammeln, ist jedenfalls keiner dabei.
Das Thema der WAI-Liste wird ständig »Barrierefreiheit« genannt, ja. Die meisten dort verwenden den Begriff auch gegenüber Kunden, obwohl sie wissen, dass die von ihnen erstellten Seiten nicht im Wortsinne barrierefrei sind, sondern nur eine im Vergleich zum potenziellen Ganzen kleine, vom Aufwand her aber erhebliche Zahl an Szenarien berücksichtigen. Darin sehe ich kein großes Problem, da ich nie das Gefühl hatte, dass dort jemand in irgendeiner Handlung gegenüber Kunden den Eindruck erwecken würde, er liefere eine perfekt zugängliche Seite für alle Besucher unter allen denkbaren Bedingungen. Daher sehe ich kein nennenswertes Problem in einem Wortgebrauch.
Mathias