Erst mal Danke für diesen hervorragenden Eintrag in unserem Weblog!
Das Thema ist allerdings nicht so neu, wie es scheint. Seit das W3C "spezifiziert", gab und gibt es Stimmen, die vor zu viel Overhead und Verkomplizierung warnen. Ich selber habe ja auch schon immer gern in diese Kerbe gehauen (z.B. in Inflation und Orientierung), weil ich der Ansicht bin, dass Webworker praxisnahe, klare und verständliche Richtlinien benötigen. Akademische Universalkonzepte für Datenverarbeitung sind dagegen zwar ein interessantes Feld für Informatiker, doch sollten solche Konzepte und ihr Entstehungsprozess von dem für die Praxis maßgeblichen Regelkanon abgelöst werden.
Die kritischen und warnenden Stimmen waren in den letzten Jahren allerdings etwas verstummt, weil ein allgemeines "Hurra, der Browserkrieg ist vorbei - jetzt halten wir uns endlich alle an die W3C-Standards" durch die Szene schwabbte, und weil man sofort niedergemacht wurde, wenn man auch nur den Anflug einer Kritik an den heiligen TRs übte.
Ob "Alternativanbieter" wie WHATWG oder Microformats tatsächlich zu einer Lösung beitragen können, darüber bin ich mir unschlüssig. Je ernster sie genommen werden, desto weiter verkomplizieren sie die Angelegenheit vielleicht nur.
Es war doch so: am Anfang entwickelte Berners-Lee sein Web, das vom gedanklichen Ansatz her übrigens am ehesten dem entsprach, was heute von einer speziellen Form von Web-Anwendungen geleistet wird: nämlich von den Wikis. Dann kam Netscape und bügelte die Ideen von Berners-Lee bis auf ein paar HTML-Tags, das URI-Schema und ein paar HTTP-Basics nieder. Netscape erfand nicht nur munter HTML-Tags, sondern sorgte auch dafür, dass das Web eine Ansammlung von egozentrischen, unverlinkten Homepages und "Auftritten" wurde, die den Web-Benutzer zum Konsumenten degradierten. Das merkte sogar Microsoft und bügelte wiederum Netscape nieder. Als dann der Browserkrieg und die Dotcom-Welle verebbt waren, machte sich bei einem Teil der Webgemeinde Katerstimmung breit, während aber gleichzeitig schon jene neue Ideen entstanden, die heute gerne als "Web 2.0" bezeichnet werden. Letzteres versteht sich auch gerne als das "basisdemokratische Web". Klar, dass damit einhergehend auch Kritik an einer weitgehend abgeschotteten, unzugänglichen Machtorganisation wie dem W3C laut wird, obwohl die meisten Web-2.0-Anhänger gleichzeitig auch vehemente Verfechter von Standards sind.
Wenn die Web-2.0-Anhänger jedoch heute mehr Demokratie auch bei Standardisierungsfragen innerhalb des Web fordern, so sollten sie nicht vergessen, dass das Web immer noch ein Teil des Internets ist, und dass es im Internet seit jeher vergleichsweise basisdemokratisch zugeht. Vielleicht ist einfach eine Rückbesinnung auf diejenigen Instrumente erforderlich, die das Internet seit jeher benutzt, um sich technisch zu definieren und weiterzuentwickeln: das Instrument der RFCs. Wie wäre es, wenn man die wirklich praxisrelevanten Sprachen wie HTML, CSS und DOMScript künftig einfach so weiterentwickelt wie das HTTP-Protokoll - nämlich in Form von RFCs? Ich könnte mir vorstellen, dass dies zumindest der Praxisnähe gut täte. Ich denke, das allgemeine Bewusstsein dafür, dass Standards erforderlich sind, ist mittlerweile so weit gereift, dass die "Verbindlichkeitsgewalt" einer RFC ausreichen würde, um prorpietäres Chaos zu verhindern.