In der Diskussion um Netzsperren gegen Kinderpornos offenbart sich eine krasse Verständnislosigkeit beider Seiten für die Verständnislosigkeit der Gegenseite. Aber was ist dabei genau das Problem?
Wenn ich diesen Eintrag mal mit einer persönlichen Message beginnen darf: Die Diskussion um die zu errichtende Netzsperrinfrastruktur gegen Kinderpornos hat es jetzt also geschafft, mich zu politisieren. Ich sehe es überhaupt nicht ein, wortlos zu akzeptieren, was da, die technische Fach- und wissenschaftliche Faktenlage ignorierend, von den herrschenden Politikern beschlossen und in Gesetze gegossen wird, und ich habe deshalb in jüngster Vergangenheit Dinge getan - beispielsweise die Unterstützung einer Partei zur Zulassung zur Europa- und Bundestagswahl oder die Unterzeichnung der Petition - die ich noch vor längerem pauschal ausgeschlossen hätte. Und ich nutze dieses Weblog jetzt als mein Sprachrohr in die Welt, um der internet-affinen Welt, die sich zwar bei SELFHTML technisch informiert, aber zu politischen Themen vielleicht noch nicht so viel Kontakt hat, aufmerksam zu machen. Hm, ich als Blogger - konnte ich mir vor Monaten auch noch nicht vorstellen, aber man wächst mit seinen Aufgaben...
Lesenswerte Erklärungsversuche zur Beschreibung des Konfliktes
Die Situation der SPD-Bundestagsfraktion
Auf abgeordnetenwatch.de beantwortet der mittlerweile fraktionslos gewordene, weil aus der SPD ausgetretene Jörg Tauss die Frage nach dem Grund für das Abstimmungsverhalten mit interessanten Einblicken in die Lebenswirklichkeit der Abgeordneten. Für mich besonders zitierenswert:
Ein Kollege hat mir jetzt tatsaechlich geschrieben, er verstehe mich ueberhaupt nicht, wegen "dem bisschen Freiheit" im Internet die SPD verlassen zu koennen. Dieses Zitat belegt, wie weit die handelnde gesetzgeberische Generation tatsaechlich vom Problem weg ist und keinerlei Sensibilitaet dafuer entwickelt hat, was der systematische technische Aufbau von Zensurinfrastruktur fuer einen freien Staat tatsaechlich bedeuten kann oder bedeutet.
Jörg Tauss am 23.06.2009 auf abgeordnetenwatch.de
Es ist also festzustellen, dass wir es - nicht nur bei der SPD, sondern selbstverständlich bei der CDU noch viel mehr, mutmaßlich aber auch bei der FDP, den Grünen und den Linken - bei Bundestagsabgeordneten mit Menschen zu tun haben, die aus einer komplett anderen Lebenswirklichkeit entstammen und vollkommen andere Lebenserfahrungen gemacht haben als wir, die wir die Nutzung des Internets aus unserem Leben nicht mehr wegdenken können - oder unsere Internetnutzung schon gar nicht mehr explizit als Nutzung wahrnehmen, sondern einfach erwarten, dass das globale Netz da ist wie die Luft zum Atmen.
Ein Beispiel für die Generation "Online"
In sehr schönen Worten hat Kristian Köhntopp sein Lebensgefühl und den Konflikt zum Lebensgefühl der Offliner beschrieben: Falscher Planet, falsches Jahrtausend. Dies angesichts der jüngst beim Sender Phoenix stattgefundenen Diskussionsrunde zwischen Rupert Scholz (CDU) und Dirk Hillbrecht (Piratenpartei) über das geistige Eigentum (und Netzsperren). (Auch bei Youtube in fünf Teilen verfügbar: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5.)
Kristian bringt es auf den Punkt:
Computer sind Kopiermaschinen. Das Netz macht aus allen Computern auf der Welt eine einzige Kopiermaschine. Und die Generation Rupert Scholz glaubt, daß sie noch politischen Gestaltungsspielraum hat.
Hier ist die Wahl. Sie ist die einzige Wahl. Sie ist digital, wie das Medium, das die Wahl erzwingt:
- Kopieren hinnehmen.
- jede Kommunikation von Jedermann mit jedem anderen immer auf ihre Legalität hin untersuchen und filtern.
Wenn Fall 2 nicht stattfindet, bildet sich sofort ein Overlay-Netzwerk und Fall 1 tritt ein.
Jede der beiden Entscheidungen verändert unsere Lebensart.
Kristian Köhntopp am 23.06.2009 in seinem Blog
Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen, ausser vielleicht dies, um es als Anwendungsbeispiel explizit zu formulieren: Man kann in einer HTML-Seite jegliches auf Servern gespeicherte Bildmaterial der Welt in einem <img src="http://example.org/externes_bild.jpg" />
referenzieren oder als Kopie einbinden und so auf seiner eigenen Seite darstellen. Es gibt keinerlei technische Möglichkeit, die das effektiv verhindern kann, ausser das Original wird nie online gebracht. Warum dies derzeit dennoch nicht massenhaft geschieht: Weil man sowas nicht tut, weil es netzgesellschaftlichen Konventionen zuwiderläuft. Und Künstler, die sich gerade auf das Kombinieren und Zusammenstellen von Bildmaterial spezialisiert haben - was ist mit denen? Sind die keine richtigen Künstler, nur weil sie auf den Arbeitsergebnissen Dritter aufbauen? Welcher Künstler tut das denn nicht? Die gesamte heutige Kultur ist das Produkt des Aufbauens auf den Ergebnissen der Kultur von gestern. Und die ist das Ergebnis der Kultur von vorgestern.
Wer sich mit der Problematik der technischen Nicht-Verhinderbarkeit des Kopierens aber noch nie auseinandergesetzt hat (und auch im SELFHTML-Forum gibt es immer wieder Fragen, die genau dies wollen), der wird nicht verstehen, warum die Experten, die doch all die technischen Wunder ermöglichen, von denen er selbst keine Ahnung hat, nicht imstande sind, seinen kleinen Kopierschutz-Wunsch auch noch zu erfüllen.
Kann ich aus dieser Horrorstory noch aussteigen?
(William Hudson in: Aliens - Die Rückkehr)
Die Diskussion über die sich derzeit offenbarenden Fragen ist unausweichlich. Sie wird geführt werden. Sie wird Ergebnisse und Entscheidungen hervorbringen. Gemäß der Mehrheitsverhältnisse zwischen informierten Fachleuten und uninformierter Masse bzw. uninformierten Entscheidern dürften die meisten Entscheidungen nicht so ausfallen, wie man sie sich als hauptsächlich betroffenes Mitglied der Fachleute wünscht. Die wichtigste Aufgabe ist es also, die uninformierte Masse in eine informierte Masse zu verwandeln, um auf diese Weise die bevorstehenden Entscheidungen zu beeinflussen.
Ich sehe dieses Weblog als Teil dieser Informationsoffensive. SELFHTML war schon immer für Die Energie des Verstehens
, die Dokumentation stand seit ihrer Geburt immer unter einer sehr freien Lizenz, und hat vermutlich in nicht unerheblichem Maße dazu beigetragen, dass sich viele Menschen dem neuen Medium Internet nicht nur als Konsument, sondern auch als Produzent genähert haben. In der Vergangenheit hat sich die Tätigkeit sehr auf die technische Hilfestellung und Dokumentation konzentriert. Ich glaube, dies sollte künftig durch Thematisierung der politischen Fragestellungen ergänzt werden:
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Aus der Präambel der Satzung des SELFHTML e.V.