Stefan Münz: Totgesagte leben länger - SELFHTML ist 20!

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Ein Dreigestirn, bestehend aus einem Datenübertragungsprotokoll auf der OSI-Anwendungsschicht (HTTP), einer überschaubaren semantischen Auszeichnungssprache für vernetzte Inhalte (HTML), und einem Adressierungsschema für weltweit eindeutige Inhalte (URIs/URLs) - das war das geniale Paket, das Sir Tim Berners Lee einst für uns alle geschnürt hat, und bei dessen Auspacken wir Damaligen ungefähr so ahnungslos waren wie die Bewohner der Insel Lummerland, als sie die Sendung mit dem kleinen Jim Knopf öffneten.

Das World-Wide-Web-Motto “Everyone’s a publisher” war verheißungsvoll und irritierend. Wir waren überrascht, fasziniert, ahnten teilweise Unglaubliches, versuchten es zu verstehen und darüber zu reden. SELFHTML wurde im deutschsprachigen Raum schnell zum führenden Ort für diesen Austausch, weil hier einerseits der technische Aspekt erklärt wurde, also das reine Know-How, aber auch die Visionen hinter alledem einen Raum erhielten. SELFHTML wurde diese ganz spezielle, im deutschsprachigen Internet allseits bekannte Institution, die sich selber einfach nur als „Dokumentation“ bezeichnete, aber auf viele Menschen wirkte wie die Anleitung für eine neue Welt, zu der dann auch viele aufbrachen.

Als das World Wide Web des Sir Berners-Lee in der zweiten Hälfte der 90er Jahre immer offenkundiger zu blühen begann, häuften sich zunächst die Versuche, das Phänomen medienkritisch oder kulturhistorisch irgendwie einzuordnen, abzuhaken, im Geiste klein und als beherrschbar zu denken. Das funktionierte jedoch nicht. Stattdessen wurde das Web zum entfesselten Hype. Neuartige Fachleute traten über Nacht in Erscheinung. Designierte weil vom Chef über Nacht ernannte Webdesigner, zertifizierte Suchmaschinenoptimierer und die ganze Garde ornamentbehangener IT-Leitwölfe. Dazu allerlei Glücksritter, die mit dem Shareholder-Prinzip Internetunternehmen wie Luftschlösser gründeten. Kein Wunder, dass diese so genannte Dotcom-Blase alsbald zerplatzte, weil es einfach an Substanz, Inhalten, funktionierenden Geschäftsmodelllen fehlte – und vor allem am Verständnis vom Wesen des World Wide Web.

Letzteres wurde nach dem Platzen der Dotcom-Blase vielfach und höhnisch totgesagt – nicht selten von den gleichen Leuten, die zuvor diese Blase ohne Sinn und Verstand befeuert hatten. Unterdessen waren die neuen, erfolgreicheren Player, die binnen weniger Jahre zu realitätsverändernden Giganten werden würden, bereits gestartet oder kurz davor zu starten: Google, Amazon, Wikipedia, Facebook. Zeitgleich entstand eine neuartige, gegenseitige Aufmerksamkeitskultur, die Blogosphäre. Das Web war alles andere als tot. Auch wenn Content Management Systeme und andere Webanwendungen längst eine neue Abstraktionsschicht zwischen Autoren und HTML geschoben hatten, so basierte doch nach wie vor alles, von Google Mail über die Facebook Timeline bis hin zu den Kommentarschlachten unter so manchem Blogartikel, auf dem Dreigestirn von Sir Tim Berners Lee.

Der erste wirklich gefährliche Fremdkörper, mit dem sich das Web herumschlagen musste, war Flash. HTML hatte nämlich ein Multimediaproblem, weil es in dieser Hinsicht zu unspezifisch war, und seine Satellitensprachen fürs Optische und Dynamische, CSS und JavaScript, waren lange Zeit nicht wirklich ausgereift. In dieser Lücke machte es sich die zunächst von Macromedia, später von Adobe betriebene, proprietäre Flash-Plattform bequem. Wie die Made im Speck hauste sie dort. In ihren besten Zeiten waren Webdesigner weitgehend Flash-Designer, die gerne vom baldigen Tod von HTML faselten. Unterdessen erforderte Flash in Milliarden von installierten Browsern ein Extra-Plugin, machte Millionen von Websites unnötig lahm und blieb echten Webverstehern stets ein Dorn im Auge. Mittlerweile befindet sich Flash dank der Anstrengungen im HTML5-Umfeld längst im Verdauungstrakt des Web, und bis zur endgültigen Ausscheidung kann es sich nur noch um ein paar Jahre handeln, so ähnlich wie beim Internet Explorer.

Stattdessen wird das Web heute von manchen Protagonisten der Mobile-Welt totgesagt. Dabei ist nicht so sehr die Tatsache von Bedeutung, dass heute mehr mobile Endgeräte im Internet unterwegs sind als herkömmliche Computer oder Laptops. Es geht eher darum, wie die meisten sogenannten „nativen“ Mobile-Apps das Web „ausklammern“ und den Anschein erwecken, sie wären ein Angebot außerhalb des Web. Sie verwenden zwar in der Regel HTTP und damit das Web, um Daten von ihren Servern zu holen oder diese dort zu speichern. Doch als Clients erhalten sie keine HTML-basierten Webseiten von den Webservern, sondern abfragespezifische programmiersprachliche Datenkonstrukte, häufig in JSON-Darstellung, die sie dann im Rahmen ihres eigenen App-Layouts aufbereiten oder bearbeitbar machen. Das ist effizient, da nur die Nutzdaten, nicht aber das User-Interface übers Internet übertragen werden muss. Doch die Vorgehensweise trennt die Daten vom „Dokument“, die Daten haben keinen Titel, keine Metadaten und keine feste Zuordnung mehr. Sie existieren nur für den flüchtigen Moment des HTTP-Requests. Bei user-individuellen Daten, die ohnehin ein Login erfordern und für Suchmaschinen irrelevant sind, bleibt dabei als Nachteil nur der Entwicklungs-Mehraufwand, wenn ein Service sowohl als herkömmliche Webanwendung als auch als native App angeboten werden soll, wobei die Inkompatibilität der Apps-Welten von Apple und Google den Doppeltaufwand zum Dreifachaufwand machen. Richtig gefährlich wird es jedoch für das offene Web, wenn es sich um nicht-persönliche Daten handelt und Anbieter sich entscheiden würden, die entsprechenden Services nur noch als Mobile-Apps anzubieten, nicht aber mehr im offenen Web. Angenommen, Wikipedia würde das tun, Amazon, Twitter oder instagram.

Doch so weit absehbar, passiert genau das nicht. Weil die großen Protagonisten längst weitsichtiger sind als ihnen gerne in Abrede gestellt wird. Mit „Apps und Märkten“ kann man zwar Konsum- und Markenjünger beeindrucken, doch langfristig landet man in einer Sackgasse. Denn irgendwann kapieren die User auch in der breiten Masse, dass sie nur kontrollierten Spezialkram installieren sollen für etwas, das sie auch so haben könnten – auch wenn sie es technisch nicht genau begründen können. WhatsApp killt die Mobiltelefonie, und WhatsApp wird irgendwann einfach nur noch identisch sein mit WhatsApp Web, weil die Entscheider kapieren, dass am Ende immer die generischste Lösung gewinnt. Und das Web ist die generischste Lösung. Bestrebungen wie das Bootstrap-Projekt, das die verschiedenen Gadget-Zugriffswelten mit Hilfe verfügbarer Webtechnologien befrieden will, weisen den Weg in die Zukunft. Mobile Betriebssysteme, die nach iOS und Android entstanden sind, wie Firefox OS oder Ubuntu Phone, setzen bereits wieder viel deutlicher auf Kompatibilität mit dem Web, wie es sich im Computer-Bereich etabliert hat. Ian Hickson hat, auch wenn er ein undemokratischer Despot sein mag, mit seinem HTML5 und vor allem mit den zugehörigen neuen Scripting-Schnittstellen das offene Web in einer höchst kritischen Phase erfolgreich gegen falsche proprietäre Götter verteidigt. Heutigen Web-Gegenargumenten wie dem der zu geringen Bandbreite werden – selbst im fortschrittslahmen Deutschland – im Laufe der nächsten Jahre die Grundlagen entzogen.

Und was hat das alles mit SELFHTML zu tun? Nun, die gute Nachricht ist, dass SELFHTML so lange eine Existenzberechtigung hat, wie es auch das offene, auf HTML und seinen Satellitensprachen basierende Web gibt. Also weiterhin. Die mächtigen Abstraktionsschichten des Content Managements haben natürlich die romantische, code-basierte Homepage-Bauerei der Anfangsjahre pulverisiert. Doch trotz Wordpress und tausender fertiger Templates – wer immer etwas Eigenes, Individuelles anbieten möchte, das nicht nach Baukastensystem aussieht, kommt früher oder später mehr oder weniger intensiv mit HTML, CSS, JavaScript, DOM, JQuery und seinen Plugins, vielleicht auch mit XML, PHP, Python oder mit DBM-Systemen in Berührung. Und es sind nicht nur Anwendungsentwickler. Oft auch Online-Redakteure, oder selbständige Einzelkämpfer, die sich keine Software-Schmiede für eine kleine, individuelle Webanwendung leisten können. Oder ganz normale, IT-mäßig nicht völlig unbeleckte Unternehmensmitarbeiter, die irgendetwas in einem Intranet realisieren wollen. All diese Menschen sind, ebenso wie unzählige Berufsschüler, Studenten und sich selbst weiterbildende Zeitgenossen weiterhin dankbar für die bewährt verständlichen Facherklärungen von SELFHTML.

Die stark veränderte Umgebung gibt aber auch SELFHTML das Recht, sich zu verändern und zu modernisieren. Genau das ist mit dem Umstieg auf das Wiki, das neue Layout und der Look&Feel-Konsolidierung von Wiki, Blog und Forum geschehen. SELFHTML verabschiedet sich, auch wenn das für manche schmerzhaft sein mag, mit dem Wiki nicht nur vom alten Layout, sondern auch vom alten Offline-Denken und der exemplar- und versionen-orientierten Distributionsform. Das ist keine Überheblichkeit oder Bequemlichkeit gegenüber den Usern, die gewohnt sind, die Dokumentation offline verfügbar zu haben. SELFHTML befreit sich damit einfach von den Zwängen der alten Medienwelt und hält sich nunmehr – ganz ähnlich wie der "Living Standard" von HTML5 – die Möglichkeit offen, sich fortlaufend zu verbessern und weiterzuentwickeln. Auch Feedback von Benutzern kann rasch in die Weiterentwicklung mit einfließen. Die aktuelle SELFHTML-Mannschaft hat dies alles begriffen und es geschafft, aus SELFHTML ein zeitgemäßes Dokumentations- und Interessensaustausch-Projekt zu formen. Das verdient höchsten Respekt.

Ich lade die Leser dieses Artikels, von denen viele das „neue“ SELFHTML vielleicht noch gar nicht kennen, herzlich ein, sich umzusehen. Ein Dreigestirn, bestehend aus Wiki, Forum und Blog, haben die fleißigen Kräfte von SELFHTML für euch geschnürt. Und wer doch noch etwas zum Downloaden vermisst, kann sich ja – die leider unvollständige – Version 1.0 von SELFHTML herunterladen, die vor 20 Jahren erstmals veröffentlicht wurde. Falls noch jemand eine vollständige Version hat – der Verein wäre dankbar, wenn das Fossil vollständig wiederhergestellt werden könnte :-)