Hi Siechfred,
Hältst Du die Diffamierung individueller Bedürfnisse für vereinbar mit der Idee des Sozialismus?
Es war keine Diffamierung i.e.S., sondern der Versuch, ein Idealbild auf den Menschen zu projizieren, was letztendlich gescheitert ist, worin wir uns sicher einig sind.
Ich glaube, das Problem geht tiefer.
1. ursprüngliche Akkumulation
Die Stalinisten aller Länder waren sich einige, dass die Sowjetunion nach der Revolution die ursprüngliche Akkumulation nachholen musste, und dabei auch die brutale Phase des Manchesterkapitalismus durchlaufen musste. Es war aus dieser Sicht nötig, die Menschen zu harter Arbeit zu verdammen, ohne ihnen eine entsprechende Gegenleistung anbieten zu können. Um dieses Konzept durchzusetzen, waren aus stalinistischer Sicht drei Maßnahmen wesentlich:
- systematischer Terror
- Zwang und Zwangsarbeit für Millionen
- Propagandaschlachten
Die Industrialisierung des Landes erforderte aus dieser Perspektive, dass alle frei werdenden Mittel in den Ausbau der Industrie gesteckt wurden. Die "Entwicklung des Sozialismus" wurde so von Anfang an zur Entwicklung eines totalitären Systems in allen Bereichen der Gesellschaft. Dabei wurde von ANfang an, zumindest aus meiner Sicht jede Idee dessen verraten, was man im positiven Sinne als sozialistisch bezeichnen könnte. Legitimiert wurde das von Anfang an durch eine verlogene Marx-"Interpretation", die sich vor allem auf die wenige Schlagworte konzentrierte, etwa die vielgerühmte "Diktatur des Proletariats".
Man muss dabei auch bedenken, dass ein Teil der "Erziehung der Kinder im Geiste des Sozialismus" in dem Versuch bestand, Konsumdenken als Ausdruck der Dekadenz des kapitalistischen Systems zu diffamieren - ein moderner Sozialist entsagt solchen niederen Instinkten.
Es wurden durchaus immer wieder Versprechungen gemacht in Richtung auf einen zukünftigen Konsum. Das Menschenbild des Stalinismus und seiner Nachfolger ist aber wirklich ein schwieriger Komplex. Für einen prägenden Aspekt der Sicht des Volkes in der DDR halte ich das tiefe Misstrauen der Führung unter Ulbricht gegen die Deutschen, geprägt durch die Erfahrung des Faschismus und das perfide Spitzelsystem im Moskauer Exil, das immer wieder verdiente Kommunisten an die Wand stellen oder im GULAG verschwinden ließ. Dabei wurden immer wieder verdiente Funktionäre als Kollaborateure und Verräter "demaskiert" und gestanden in Schauprozessen die unglaublichsten Verbrechen ein.
Das gesamte Sowjetsystem war daher geprägt durch ein tiefes Misstrauen gegen die Menschen im allgemeinen und die kommunistischen Mitstreiter im besonderen. Das schlug sich in der DDR im allumfassenden Spitzelsystem nieder, in "Säuberungs"aktionen und geheimen Untersuchungen innerhalb der Partei.
Beispielhaft seien die Funktionäre der illegalen KP im KZ Buchenwald genannt, von denen mehrere unter dem perfiden Vorwurf, sie hätten mit der Gestapo zusammengearbeitet, liquidiert wurden. Nur wenige wurden später halbherzig rehabilitiert, als die schlimmst stalinistische Epoche überstanden war.
Dass das an dem Wesen des Menschen selber scheitern musste, war eigentlich klar, wurde aber seitens der Regierung nicht wahrgenommen, vielleicht auch weil sie es nicht wahrnehmen wollten.
Die Frage nach dem Wesen des Menschen ist interessant, aber immer mit äußerster Skepsis zu stellen. Es ist gerade das Kennzeichen des Menschen, dass er selbst in Bereichen, die sehr unmittelbar und naturhaft erscheinen, sozial, politisch und historisch geprägt ist. Die Frage an die Anthropologie, ob es von der Natur des Menschen überhaupt möglich sei, solidarische Formen der Gesellschaftsorganisation aufzubauen, ist also schwerer zu beantworten, als die Frage, ob man dies aus politischen Gründen will.
Für mich ist ein Fazit des gescheiterten Sozialismus, dass es unmöglich ist, auf unmenschlichen Wegen eine menschliche Gesellschaft zu bauen.
Viele Grüße
Mathias Bigge