Hallo,
... Die Problematik bleibt doch genauso spannungs- und konfliktgeladen, wenn wir stattdessen von »Zugänglichkeit« sprechen würden.
Ich sehe einen deutlichen Unterschied. Barrierefrei trägt das Ziel (_Frei_ von Barrieren) wortwörtlich in sich. Zugänglichkeit läst sich - vom Wortlaut her - leichter in Stufen oder Grade unterteilen. Das hört sich jetzt etwas korinthenkackerisch an. Für Behörden (wie im aktuellen Anlaß) mit ihrem quasi-jura-Denken ist der Unterschied aber wichtig.
Das ist tatsächlich bedenkenswert. Der Begriff Barrierefreiheit ist im Gesetz (BGG bvw. BITV NRW) ja eindeutig definiert: »Barrierefreiheit ist die Auffindbarkeit, Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der gestalteten Lebensbereiche für alle Menschen.« (http://www.landtag.nrw.de/WWW/GB_I/I.1/Ausschuesse/A01/13-861.pdf, § 4) Die BITV NRW macht dem entsprechende Aussagen: »Inhalte und Erscheinungsbild sind so zu gestalten, dass sie für alle wahrnehmbar sind. Die Benutzeroberflächen der Angebote sind so zu gestalten, dass sie für alle bedienbar sind.« usw. (http://www.wob11.de/gesetze/nrw-bitv.htm, § 2)
Das sind freilich gefährliche Aussagen, weil es ein Leichtes ist, selbst bei einer allgemein als zugänglich empfundenen Seite nachzuweisen, dass die Inhalte für bestimmte Menschen trotz aller Vorkehrungen nur schwer wahrgenommen werden können. Wenn ein privater Webautor Aussagen wie diese macht, kann er auf einen Einspruch reagieren, indem er das »für alle« abschwächt und relativiert. Das wäre konsequent, wie wir festgestellt haben, und wir sehen es nicht so eng, weil wir wissen, was er damit meinte. Wenn hingegen eine Behörde behauptet, sie biete ihren Bürgern eine »barrierefreie« Seite gemäß Behindertengleichstellungsgesetz und der Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung an, dann legt sie sich auf das »für alle« fest und hat im negativen Sinne keinen Interpretations- und Abwägungsspielraum...
Behörden neigen nämlich dazu (ich weiß, wovon ich spreche, ich arbeite seit 23 Jahren in verschiedensten Behörden :-)), aus lauter Angst vor eigener Verantwortlichkeit, die Hürde lieber zu unterlaufen als sie zu reißen. Ihnen nimmt man so die Möglichkeit, schon auf semantischer Ebene die vermeintliche Hürde wegzudiskutieren.
Das leuchtet mir ein.
Anders herum gilt das aber auch für manche Kritiker. Wer eine Seite erst dann als barrierefrei bezeichnet, wenn auch Analphabeten ohne Internetanschluß die Seite mit Lynx lesen können (um das mal ins absurde zu treiben) beschert der Sache einen Bärendienst. Auch solchen Kritikern nimmt man den Wind aus den Segeln.
Ja. Immerhin zeigen sie die Grenzen von Zugänglichkeit auf. Vor das Szenario der Analphabeten und ähnliche sehen sich die Gemeinden durchaus gestellt, wenn es um andere elektronische Informationsangebote und -systeme außerhalb des WWW geht, die nach strenger Auslegung des Gesetzes konsequent barrierefrei sein müssten. Einfache Regeln ohne Ausnahme wie »Alle Informationsangebote müssen für alle zugänglich sein« vergessen, dass es in Einzelfall bessere Alternativen gibt.
Mathias