Hi Richard,
Neulich habe ich mit Schülern den Abschiedsbrief des Attentäters von Emsdetten gelesen, da fiel uns auf, dass auch er auf der Grundlage eines binären Schemas (Ihr schlaft! - Ich wache!)
Du hast dich dabei nicht etwa zufällig von Luhmann inspirieren lassen?
Ich setze bei der Textanalyse oft auf strukturale Methoden, wie sie in der Folge von Foucault entstanden sind. Es gibt dabei Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede. Ich habe zufällig gerade noch die neueren Versuche Luhmanns gelesen, seinen Kommunikationsbegriff zu erweitern, indem er Kommmunikation als eigenes System zu begreifen versucht, der Ansatz überwindet gewisse Schwierigkeiten der Systemtheorie, bleibt aber sehr abstrakt.
die gesellschaftlichen Werte, die er kritisierte, immer in einer ternären Struktur aufführte (dickes Auto, schöne Frau, Villa oder bei Jugendlichen coole Klamotten, neues Handy, angesagte Freunde).
Also, das musst du mir erklären. Warum ternärer Code? Warum nicht binärer? "dickes Auto haben oder nicht haben", "coole Klamotten haben oder nicht haben" - ternär wäre: "dickes Auto haben ist wichtig / ist unwichtig / ist egal". Oder sehe ich das falsch?
Aus der Sicht der Systemtheorie liegst Du m.E. richtig, da Luhmann versucht, auch komplexere Systeme auf binäre Schemata zurückzuführen, etwa das Notensystem von 1-6. In der Semiotik würde man etwa unsere gute alte Verkehrsampel als ternäres System behandeln, die Systemtheorie würde es wahrscheinlich auf binäre Schemata zurückführen (Rot - Nicht Rot).
Beides scheint mir machbar zu sein, die Frage in dem in Frage stehenden Kontext ist für mich, ob es nicht doch signifikant ist, dass Sprecher und Schreiber zur Kennzeichnung von Werten drei Dinge zu nennen pflegen ("Mein Haus, mein Auto, meine Frau"; "3 Dinge braucht der Mann: Feuer, Pfeife, Stanwell"; "3 Dinge muss ein Mann in seinem Leben leisten: Einen Sohn zeugen, ein Haus bauen, einen Baum Pflanzen."). Man könnte viele Beispiele folgen lassen. Welchen Erkenntnisgewinn erzielt man, wenn man diese heilige Dreifaltigkeit auf ein binäres Schema reduziert?
Zumindest Adorno hätte sich sicherlich über die Zuverlässigkeit der schematischen Weltwahrnehmung auf kluge Art empört,
Mindestens darüber, dass die nur am schnöden Mammon orientierte Gesellschaft den jungen Mann am kritischen Reflektieren seiner Situation gehindert hat. Und Habermas wird sich wohl darüber mokieren, dass da wieder einer gehandelt hat, bevor nicht alles ausdiskutiert worden ist.
Schön gesagt! Nebenbei: Ganz dumm war der Junge nicht, er entwickelt in seinem Abschiedsbrief eine Gesellschaftskritik, die viele Jugendliche anspricht. Interessant und nicht ganz leicht zu verstehen ist der Moment, in dem das Ganze umkippt. Es gibt auf jeden Fall eine tiefe Hoffnungslosigkeit und eine medienformatierte Aggression. Ich gehöre auch nicht zu der Fraktion, die sich aus dem Verbot von Gewaltspielen und der Reduktion von Gewalt im Fernsehen viel erhofft, weil die entscheidenden Quellen der Gewalt m.E. andere sind. Es wird jedoch aus dem Abschiedsbrief deutlich, dass die Mediengewalt negative Identifikationsmöglichkeiten für desorientierte Jugendliche bietet, und das sollte man ernstnehmen.
Im Anschluss an McLuhan ("The media is the message") würde ich aber die Auffassung vertreten, dass die mediale Kernwirkung der übergroße Medienkonsum für sich ist, fast unabhängig von den Inhalten. Was ich auf jeden Fall seit Jahren beobachte, ist die massive Flucht von Schülern mit Schulschwierigkeiten in mediale Welten, meist in solche, in denen man letzlich einen Triumph nach dem anderen feiert. Das kann sowohl über die Identifikation mit Filmhelden als auch mit Rollenspielfiguren laufen. Der psychologische Kern ist m.E. eine paradoxe Identität, die labil zwischen Größenwahn und massiven Minderwertigkeitsgefühlen schwankt.
Viele Grüße
Mathias Bigge