Hallo Lina,
Die bessere Frage ist doch aber: wieso sind so viele Eltern (angeblich) unfähig ihre Kinder zu erziehen?
Das ist eine Frage, die mich beschäftigt, seit ich Kinder habe. Meine Erfahrung ist: Es gibt keine Eltern, die der Ansicht sind, sie würden gute Erziehungsarbeit leisten. Das schlechte Gewissen meiner Mutter mir gegenüber ist genauso normal wie die Erzählungen von ständiger Überforderung durch die Familie, die ich von meiner Schwiegermutter zu hören bekomme. Die beiden sind inzwischen über siebzig und nicht allein damit.
Grundsätzlich liegt vermutlich vieles daran, dass die gesamte Gesellschaft der Überzeugung ist, dass Frauen ein "Kindererziehungsgen" haben, das sich in dem Moment aktiviert, wenn sie ein Kind bekommen. Es wird erwartet, dass du alles weisst und alles "richtig" machst - und es geht so weit, dass die Frauen, wenn sie mit ihrem zwei bis fünf Kilo schweren Bündel dastehen, sich wundern, warum sie, um alles in der Welt, nichts damit anfangen können. Das ist der Grundstein für das kollektive schlechte Gewissen und die konstante Überforderung von Müttern. Und es wird dann auch nicht besser.
Ich erinnere mich an ganze Nächte, die mein heute 13-jähriger Großer durchgebrüllt hat, weil er Blähungen hatte, die auch mit Simethicon nicht zu beheben waren, an Momente, in denen ich vor meinem Baby stand, das auf dem Wickeltisch lag und für Geld und gute Worte keine Windel an den Hintern haben wollte, an Hilflosigkeit und an handfesten Streit mit einem Persönchen, das noch nicht einmal in der Lage war, zu sprechen, geschweige denn irgendwelche gesprochenen Argumente zu verstehen. In solchen Situationen nicht die Tatsache auszunutzen, dass man größer und stärker ist, kostet immense Kraft und haufenweise Beherrschung.
Es wird nicht besser, wenn die Kerle dann wachsen und zu sprechen anfangen - sie sind's ja gewohnt, dass man für sie springt, müssen Selbständigkeit erst lernen. Die meisten Kinder wollen aus der Situation, dass sie auf andere angewiesen sind, heraus und versuchen, ihren Aktionsradius selbständig zu erweitern, sicher. Das hindert sie aber nicht daran, dort, wo's bequem ist, so lange wie möglich klein bleiben zu wollen. Verständlich, wer würde sich nicht hier und da bedienen lassen wollen? Du stehst dann also vor einem Menschen, der einerseits die marmorne Treppe hochkrabbelt, ungeachtet der Tatsache, dass er selbst auf allen vieren noch nicht sicher ist, andererseits aber die Apfelstückchen bitte in den Mund geschoben bekommen möchte, weil es zu anstrengend ist, sie selbst anzufassen. Das erfordert von Muttern einen ständigen Balanceakt zwischen dem Fördern (und Fordern!) der Selbständigkeit und dem Verhindern von Gefahren.
Erschwerend hinzu kommen dann die lieben Mitmenschen; manchmal habe ich das Gefühl, dass Mütter, deren Kinder inzwischen erwachsen und für sich selbst verantwortlich sind (da reden wir jetzt nicht von eigenen Müttern und Schwiegermüttern sondern den streckenweise unglaublichen Dumpfbacken, die in Straßen- und U-Bahnen, in Cafes, Restaurants, in Rathäusern und anderen öffentlichen Einrichtungen vorzufinden sind), dass also diese Damen nicht ganz ohne Häme sind und mit Wonne denen, die kleine Kinder haben, alles heimzahlen, was ihnen widerfahren ist, als ihre Kinder noch klein, hilflos und manchmal schwer "hantierbar" waren. Was du dir anhören musst, wenn du ein Kleinkind dabeihast, das weint, ist schon unglaublich. Der Gipfel der Genüsse wird aber erst dann erreicht, wenn du ein Kind hast, das seine Fähigkeiten ausnutzt, das Grenzen sucht und Fragen stellt. Oho, wehe der Mutter, dessen Kind den Sitz in der U-Bahn als Trainigsgerät für sich entdeckt hat. Spätestens nach dem fünften Mal 'raufklettern und wieder 'runterrutschen, was ja grundsätzlich von angestrengtem Schnaufen, selbsterzieherischem Gemurmel und - bei Erfolg - fröhlichem Quieken bis hin zu lautem Triumpfgeschrei begleitet wird, gibt's bitterböse Blicke.
Du kannst auch mal versuchen, dein Kind in ein Cafe oder Restaurant mitzunehmen. Selbst wenn es Kinderstühle gibt, die ja generell für eine gewisse Bewegungsunfähigkeit der lieben Kleinen sorgen, wird's spätestens nach einer halben Stunde für Kleinkinder (und auch etwas größere) langweilig. Dann fangen sie an zu nölen und zu nörgeln, unglücklich zu quieken - nunja, sie geben eben auf die einzige Art und Weise, deren sie fähig sind, kund und zu wissen, dass sie sich nicht wohl fühlen. Wehe den Eltern, die nicht in der Lage sind, ihr Kind "abzustellen"!
Der langen Rede kurzer Sinn: Vermutlich würden viele Eltern viel besser zurechtkommen, wenn der soziale Druck nicht so hoch wäre. Egal, wohin du als Mutter mit Baby oder Kleinkind kommst - die Umwelt reagiert (wenn du Glück hast) zunächst mit freudigem Entzücken, spätestens, wenn das Kind aber die Aufmerksamkeit der Erwachsenen um sich herum benötigt aber mit Unverständnis und einer Art von Kritik, die dir das Blut in den Adern gefrieren läßt ("Dem gehört der Hosenboden strammgezogen", "Mit so einem Kind würde _ich_ mich ja nicht auf die Straße trauen"...).
So findest du dich als Elternteil grundsätzlich in der Situation wieder, ständig beurteilt und bewertet zu werden. Und die Noten sind durchgehend schlecht, da kannst du machen, was immer du willst. Alle, alle Menschen, ob es solche sind, die du gut und lange kennst, Eltern, Geschwister, Freunde mit und ohne Kinder, die Omma in der U-Bahn, die aufgebrezelte Thusnelda im Café - alle wissen, wie man dieses Kind so erziehen könnte, dass es keine "Probleme" mehr macht. Wer unter dieser Last nicht irgendwann zusammenbricht, hat ein wirklich sehr gesundes Selbstbewusstsein - ich habe bisher noch keine Mutter kennengelernt, die der Ansicht gewesen wäre, dass ihre Erziehung ok sei. Nicht eine.
Wirklich kompetente Hilfe und wirklich gute Ratschläge sind selten. Normalerweise läuft es darauf hinaus, dass man den Rat bekommt, eben Hosenböden strammzuziehen, etwas hinter irgendwelche Löffel zu geben, im Extremfall soll man sich halt mal den Gürtel aus der Hose ziehen. Aus dem Lager auf der anderen Seite (da sind meistens Kindergärtnerinnen und frauenvereinigte Vollzeitmütter zu finden) kommt garantiert in dem Moment, in dem man wider das eigene Gefühl völlig entnervt die vorgenannten Ratschläge befolgt, sofort der (durchaus berechtigte) wutentbrannte Aufschrei, dass man sein Kind misshandelte. Wie man sein Kind von seinen Ansichten sozial verträglichen Verhaltens überzeugen soll, sagen diese Tanten einem aber auch nicht.
Wen wundert es da, dass Menschen, die sich von aller Welt verraten und verkauft fühlen, die eventuell auch noch ein "schwieriges" Kind haben, dann auf Leute zurückzugreifen versuchen, die den Eindruck vermitteln, sie wollten wirklich helfen? Wer will denen, die die Supernanny in Anspruch nehmen, denn diesen Griff nach dem Strohhalm verdenken?
Ich frage mich, wieso ist das (angeblich) so? Zieht sich das durch die gesamte Gesellschaft oder sind nur bestimmte "Schichten" von diesem Phänomen betroffen?
Verkorkste Kinder sind üblicherweise das Produkt einer verkorksten Umgebung - damit ist nicht etwa ein "sozial schwacher Hintergrund" gemeint, sondern in der Tat Uneinigkeit unter den Erwachsenen, die das Kind umgeben. Wenn wir gesellschaftlich vielleicht doch mal eher dahin kommen könnten, die Mütter nicht mit wohlgemeinten Ratschlägen zuzupflastern, sondern einfach nur zu fragen, ob wir helfen können - und wenn ja, was sie braucht - dann wäre schon vieles getan. Immens viele Erziehungsprobleme sind dem Stress geschuldet, der durch die unmittelbare und mittelbare Umgebung erzeugt wird, dem Druck, der entsteht, wenn Eltern sich durch die wohlmeinende Kritik und die guten Ratschläge ihrer Mitmenschen klein, unzulänglich, unfähig und einfach nur dumm fühlen.
Wer zieht sich hier aus der Verantwortung? Schule oder Eltern?
Persönlich kenne ich kein Elternpaar, dem es so ergeht.. darum Fragen über Fragen.
Wer sich hier aus der Verantwortung zieht, ist die gesamte Gesellschaft. Kinder brauchen wir, sonst haben wir ja keinen, der unsere Renten bezahlt. Aber lästig werden dürfen sie uns nicht. Eigentlich sind wir als Gesellschaft immer noch auf der von Maria Montessori kritisierten Stufe, dass wir als Gesellschaft meinen, die Kinder müssten sich uns anpassen. Grundsätzlich müssen wir als Gesellschaft aber endlich bereit werden, den Weg des Aufwachsens mit den Kindern zu gehen, anstatt sie hinter uns herzuschleifen und alle, die unsere Normen (temporär oder generell) nicht ausfüllen, die das von uns vorgegebene Tempo nicht vertragen (weil es zu langsam oder zu schnell ist, beides ist möglich), die sich nicht in eine Form pressen lassen, als "schwer erziehbar", "verhaltensgestört", "nicht beschulbar"... aus der Gesellschaft auszuschließen. Wir müssen einfach anerkennen lernen, dass die Kinder einen Weg gehen. Wir sind bereits auf unserem, der nicht notwendigerweise und auch nicht normalerweise der Weg der Kinder sein muss. Das ist für Erwachsene umständlich, zeitraubend, entnervend - aber unendlich lohnenswert, wenn sie sich darauf einlassen.
File Griese,
Stonie
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Ein schlechtes Statement spricht für sich - jeder Kommentar ist verschwendete Energie, die einem bei wirklich wichtigen Unterfangen fehlen könnte.
Und im Übrigen
kennt auch Stonie Wayne.