Hi Wilhelm,
Sorry, als ich vorletztes Jahr mangels Jobs oft tagelang nichts zum Fressen hatte, habe ich auf einem Wertstoffhof für sehr wenig Geld als Tagelöhner gebuckelt, habe im Winter bei der Gemeinde Bushaltestellen freigeschippt, vertretungsweise um 4:00h morgens an der Tanstelle Sandwiches hergerichtet usw. Ich kann *Deine* selbstgefällige Argumentation von der bösen Gesellschaft und Politik nicht mehr hören! Und ja, für H4 war ich mir zu stolz und ich wollte in meinem Alter nicht in dieser Sackgasse enden. Aber da war dann auch nichts mit Kneipe gehen, Essen gehen, Klamotten kaufen und Internet (mangels Telefon/DSL).
Ich finde toll, dass Du so offen über Deine persönliche Krise sprichst, endlich mal jemand, der plastisch darstellt, dass man ökonomisch und beruflich in Sackgassen geraten kann, ohne ein Faulpelz oder eine Niete zu sein. Ich musste in meinem Leben zweimal mit einer schwierigen beruflichen Situation fertig werden, einmal als meine herrliche Unikarriere eben nicht wie geplant in eine Daueranstellung mündete, zuletzt vor 4 Jahren, als meine wertgute Firma nichts Richtiges mehr abwarf und ich meine Selbständigkeit aufgeben musste.
Nun hatte ich jeweils das Glück, mit einer guten Qualifikation im Rücken und einem stabilen Selbstbewusstsein jeweils relativ schnell etwas Neues auf die Beine stellen zu können. Ich weiß aber, dass es auch hätte schief gehen können, etwa wenn ich zu der Zeit ernstlich krank gewesen wäre oder dergleichen.
Du schilderst Deine tiefe Abneigung gegen unsere herrlichen Sozialsysteme und auch die teile ich, weil ich bei so vielen beobachtet habe, wie lange Abhängigkeit von den Behörden nach unten zieht. In Diesem Sinne möchte ich jedem raten, sich so intensiv wie möglich um Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zu kümmern, auch wenn es extrem schwierig aussieht. Nicht, weil ich jemandem die Berechtigung absprechen will, die staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, ausschließlich weil man als Sozialempfänger meist immer mehr Kraft und Selbstbewusstsein verliert.
Ich weiß nicht, wie man das System so ändern könnte, dass es die Leute nicht derart abbaut, sondern stärkt und ihnen neue Perspektiven vermittelt. Vielleicht wäre eine Möglichkeit, den Leuten weniger mit Druck, sondern mehr mit Support zu kommen, etwa indem man immer wieder guckt, wo ihre Möglichkeiten liegen und diese massiv zu unterstützen. Dabei müsste man weg von den sinnlosen "Maßnahmen", d.h. von hohlen "Schulungen", die keine andere Funktion haben als die Leute zu tyrannisieren und sie aus der Statistik zu kriegen.
Was ein heikler Punkt ist, ist die Verachtung der Menschen in sozialer Not, die aus einigen der Postings hier spricht. Das Motto
"Wer keinen Job hat, soll Scheiße fressen!",
ist mir zutiefst unsympathisch. Wieso sollen ausgerechnet die kleinen Leute die Folgen tragen, wenn das System an verschiedenen Stellen nicht funktioniert? Woher kommt dieser Neid? Da scheinen einige ihr Hirn und ihre Menschlichkeit durch die tollen Medien komplett auf Teppichniveau bürsten zu lassen.
Viele Grüße
Mathias Bigge