Sven Rautenberg: Motivation und Management von offenen Projekten mit Freiwilligen

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Moin!

»» Wahnsinn! Du erzählst hier Visionen, wie sie in tausend anderen Spielen auch vorkommen. Ich hab' jedenfalls noch nichts "einzigartiges" entdecken können - und ich habe auch nicht den Eindruck, dass du mit den wirklich einzigartigen Ideen hinterm Berg hältst.

Etwas ähnliches hab' ich mir gerade auch gedacht - ich hab mich schon mit sehr oft mit Entwicklern und Gamedesignern unterhalten. Hier hat sich die Faustregel rauskristallisiert: "Je besser und einzigartiger, desto näher am Einheitsbrei."

Nicht, dass ich falsch verstanden werde: Ich hab' nichts dagegen, wenn sich Leute aus freien Stücken zusammentun und interessante Software bauen wollen. Aber in diesem Thread geht es ja auch - oder gerade - um die Frage, wie man Leute findet, die dann freiwillig das tun, was man selbst will, um das Projekt weiterzubringen. Und woran es liegt, dass Leute, die man schon gefunden hatte, dann wieder abspringen.

Und da zeigt mir meine Erfahrung mit dem noch relativ einfachen Projekt "SELFHTML", das ich hier ja mitbetreibe, dass solche offenen Projekte wirklich die härtesten Anforderungen an alles stellen, die man sich vorstellen kann.

Ich meine: Hat man einen bezahlten Job, um ein kommerzielles Projekt auf die Beine zu stellen, gibts zur Motivationsfrage eigentlich keine zwei Meinungen. Wenn der Projektmanager sagt, was getan werden soll, dann wird das getan - andernfalls kriegt man ein Problem.

Bei freiwilligen Projekten funktioniert das nicht. Wenn da etwas getan werden soll, muss die Aufgabe aus sich heraus, aber auch im Gesamtumfeld, für jemanden im Team so reizvoll sein, dass er sie erledigt. Die Motivation zur Erledigung kann sich dabei aus den unterschiedlichsten Bestandteilen zusammensetzen. Für die einen ist es die Auseinandersetzung mit der Aufgabe an sich, entweder weil sie einfach ist, oder gerade weil sie schwierig ist. Andere empfinden die Mitarbeit in einem funktionierenden Team als reizvoll. Oder es ist das mit der Aufgabe bzw. deren erfolgreicher Erledigung verbundene Prestige, dass man erreichen kann. Dinge wie Zugewinn an Wissen, das man sich auch für andere Dinge nutzbar machen kann, Sammeln von Erfahrungen etc., können ebenfalls zur Motivation beitragen.

Damit das aber klappt, und sich die Teammotivation in einer positiven Feedbackschleife durch erreichte Ziele und Ergebnisse verstärkt, so dass neue Ziele angegangen werden, ist es unabdingbar, dass die gesteckten Ziele auch erreichbar sind. Man muss die Schritte klein genug machen, damit sie gegangen werden.

SELFHTML ist dafür ein gutes Beispiel. Wir reden bestimmt schon vier, fünf Jahre (wenn ich mal pessimistisch schätze) darüber, endlich die Version 9 zu schreiben, und darin endlich alles "richtig"[TM] zu machen, was in den vorherigen Versionen nur unvollständig, unrichtig, vermischt oder unschön dargestellt wurde. Also endlich mal den großen Schlag vollbringen.

Das hat am Anfang tatsächlich zu erledigten Teilaufgaben geführt. Es wurden Überlegungen zu einem für die Aufgabe passenden XML-Format angestellt, es wurden auch die ganzen gesammelten Fehlermeldungen zu Version 8.1 und 8.1.1 verarbeitet und führten zu einer Version 8.1.2, es wurde an vielen Systemen im Hintergrund gedreht, die die Verwaltung erleichtern sollten, und natürlich war auch das Tagesgeschäft in Form der Foren nicht zu unterschätzen.

Aber all diese Tätigkeiten führten lange Zeit nicht wirklich zum Erfolg. Niemand traute sich an Version 9 ran, keiner hat spontan begonnen, loszuschreiben. Dazu war diese Aufgabe einfach zu groß. Und die Auffassungen über die "richtige"[TM] Erledigung der Aufgabe auch sehr unterschiedlich.

Erst als die Redaktion beschlossen hat, die Aufgabe deutlich kleiner zu machen (indem in der ersten 9er-Version nur HTML, CSS und Javascript angegangen werden), und komplett neu zu beginnen (als Alternative zu dem Versuch, die bestehenden Kapitel zu überarbeiten), kam mehr Bewegung in die Sache. Und es läuft trotzdem immer noch zäh, und erfordert sehr viele Ideen zur Motivation, um die gestartete Arbeit am Leben zu halten, weiterzutreiben, und trotzdem koordiniert auf das große Ziel zuzusteuern, ohne jeden Tag daran zu denken, dass dieses Ziel enorm groß ist. Kleine Schritte, beständig gemacht, werden uns eines Tages ans Ziel geführt haben.

Und unter dem gleichen Aspekt sehe ich das hier im Thread angesprochene Spieleprojekt. Das aufgestellte Ziel ist vollkommen utopisch zu erreichen, niemand wagt sich an so eine Aufgabe heran, stattdessen wird die Zeit mit tarnenden Tätigkeiten wie dem Produzieren von Grafiken, Designs und Musik verbraten, obwohl gewiss ist, dass all das vollig sinnlos sein wird, wenn am Ende kein Spiel entstanden ist. Und die Enttäuschung wird umso größer sein, wenn tatsächlich ein Spiel entsteht, das aber die viel zu hohen Erwartungen nicht erfüllt.

- Sven Rautenberg