Lieber molily,
ich schätze Deine Weisheit in Sachen Programmierung und Programmiersprachendesign.
Das Lernen lernen/lehren ist offensichtlich nicht Deine Profession.
Ich finde die Schlüsse, die hier aus der Studie gezogen werden, problematisch.
Welche Schlüsse genau meinst Du? Dass die Testgruppe keine Aussagekraft hinsichtlich anderer Gruppen hat? Dass empirische Erhebungen grundsätzlich nicht dazu geeignet sind, außerhalb der Testgruppe valide Aussagen über die Gültigkeit von Ursache und Wirkung zu machen?
Alle Probanden sind in einer analogen Welt aufgewachsen, in denen sie mit Stiften gemalt, geschrieben und Mitschriften angefertigt haben, seit frühen Kindestagen bis hin zum Uniabschluss.
Da wäre ich sehr vorsichtig. Mitschriften werden auch digitalisiert. Das Anfertigen als solches wäre auch mit Diktiergerät nach einer Vorlesung/Veranstaltung möglich. Das hat mit dem Lernen zunächst nur entfernt zu tun.
Sie haben 95% dessen, was sie gelernt haben, mit Stift und Papier gelernt.
Diese Aussage finde ich wiederum höchst(!) problematisch. Wenn ich sehe, wie Kinder in Kindergärten Dinge anfassen ("begreifen"), daran hoch klettern, darin herummatschen, darauf nagen... Wenn ich dann sehe, womit sich Schulkinder beschäftigen - und wie lange... Es gibt viele Bereiche des Lernens. Nicht alle haben direkt mit Worten oder mit Stiften zu tun! Und Papier wird nicht nur zum Beschreiben kreativ verwendet.
Wer sich schon einmal heftig diskutierend, vielleicht auch mit "schlagenden Argumenten" auseinandergesetzt hat, der hat dabei viele Dinge des menschlichen Miteinanders "gelernt", deren "Wissen" wirklich nicht mit Stiften erworben wurde (hier würden Stifte allenfalls als Werkzeug zum körperlichen Verletzen zählen). Was das Betören des jeweils anderen Geschlechts angeht, so mag das sicherlich ähnlich sein (wie Du da die Stifte einordnest, überlasse ich Dir *g*).
Wenn ich denen nun nach 20 Jahren kognitiver Entwicklung einen Laptop zum Mitschreiben gebe, ist das Ergebnis nicht verwunderlich.
Es ist für diejenigen nicht verwunderlich, die sich damit beschäftigen wie das Gehirn funktioniert und wie es sich entwickelt. Insbesondere bei Heranwachsenden.
Das Gehirn ist auf das Mitschreiben per Hand konditioniert. So hat es Lernen gelernt.
Dieser Satz ist problematisch und höchstwahrscheinlich falsch. Das Lernen geschieht in vielen Fällen "multisensorisch". Die Inhalte wollen mit möglichst vielen Assoziationen verknüpft werden. Das manuelle Gestalten einer Linie auf Papier, die eine Schrift werden soll, stellt beim Erstellen bereits eine Layoutleistung dar. Daran schließt sich unmittelbar das Formulieren als redaktionelle Leistung an. Diese wiederum hat eine inhaltliche Auseinandersetzung, also eine Verarbeitung im wörtlichen Sinne, mit dem Stoff zur direkten Folge.
Wenn Du das "optische Gedächtnis" völlig außer Acht lässt, welches bei z.T. "blindem Tippen" nur unwesentlich zum Zuge kommt (das Layout leistet die Textverarbeitung, die Repräsentation der Buchstaben die verwendete Schriftart), dann scheint Deine Verweigerungshaltung etwas plausibler. So kann sie mich aber nicht überzeugen.
Und wie das Gehirn konditioniert ist, das weißt Du woher so genau? Immerhin haben Studien ergeben, dass wir uns lieber merken _wo_ eine Information abrufbar ist, anstatt die Information selbst zu speichern. Da ist das mit dem Tippen ein bequemes "Papier ist geduldig"-Verhalten, wohingegen beim manuellen Anfertigen von Schrift (s.o.) gewisse Verknüpfungen im Gehirn unvermeidbar sind, die später zu der beobachteten Überlegenheit bei Transfer-Aufgaben führen könnten, auch wenn der Mitkritzler "Papier ist geduldig" findet.
Heutige Kinder benutzen neben Stiften Tablets, Smartphones, Laptops… zum Malen, Schreiben, Spielen… Ihre Kreativität und ihre Fähigkeiten entwickeln sich entsprechend, sie gewöhnen sich an diese Werkzeuge.
Wenn Du wüsstest, was Du da sagst! Kindergärtnerinnen beobachten Kleinkinder, die mit den Fingern am Aquarium die Vergrößerungsgeste von Touchgeräten an der Scheibe machen, um die Fische größer zu sehen. Wenn da mal keine verzerrten Grund-Sinneseindrücke angelegt wurden. Und wo bitte ist die Kreativität größer? Wenn Heranwachsende mit ihrer sich erst ausbildenden (Fein-?)Motorik anhand von Stiften und Papier eine unendlich vielfältigere Ausdrucksmöglichkeit aneignen, als das mit einem Grafikprogramm (InkScape, GIMP und Konsorten) in diesem Stadium überhaupt möglich ist, oder wenn sie mit einem kapazitiven Dingsbums über eine relativ kleine Plastikoberfläche streicheln? Für jede andere Strichform muss man doch im Programm wieder ein anderes "Werkzeug" auswählen, anstatt dass man einfach den Stift etwas anders hält!
Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie etwas in der bildlichen Darstellung aussehen soll, benutzen sogar professionelle Künstler in Spieleschmieden nach wie vor immer wieder Papier, Kreide, Stifte und Modelliermasse für ihre Konzepte. Warum machen die nicht von vornherein alles am Computer? Die 3D-Modelle könnte so jeder am Computer selbst betrachten und drehen (anstatt das Teil im Besprechungsraum mit den Händen zu "begreifen") - oder wie? Glaubst Du allen Ernstes, dass das nur daran liegt, dass diese Künstler mit dem Medium nicht aufgewachsen wären?
Du vergisst einfach, dass die Gehirnentwicklung eine von der Natur seit zig Millionen Jahren verfeinerte und auf die natürlichen Bedürfnisse hin perfektionierte Angelegenheit ist, die digitale (aus Sicht der Natur nach wie vor höchst krude) Strukturen nicht berücksichtigt. Dass diese Entwicklung bis ins hohe Alter eines Menschen kontinuierlich weiter geht, das darfst Du auch nicht unterschätzen. Daher sind absolut wesentliche Grundlagen in der Senso-Motorik unverzichtbar. Und aus empirischen Daten ist messbar, dass Kinder und Jugendliche hier immer stärkere Defizite aufweisen.
Und ob es Dir schmeckt, oder nicht: Unser Dasein findet zu einem überwiegenden Teil in der analogen Welt statt. Ich will meine Notdurft nicht mit Oculus-Rift-Brille und virtuellem Klopapier verrichten!
Aber wenn Du meinst, die Schlüsse wären die falschen...
Sie sind die wirklichen Digital Natives. Sie merken sich Dinge nicht, indem sie sie mit Stiften niederschreiben, sondern indem sie sie eintippen oder anderweitig eingeben.
Nein. Das ist nachweisbar falsch! Da liegst Du mit Deiner Meinung leider abseits der messbaren Wirklichkeit. Siehe nicht nur die Studie, siehe vor allem die Qualität der aktuellen Abiturklausuren hinsichtlich Satzbau, Schriftbild usw.! Zwar habe ich da erst einen etwa acht Jahre umspannenden Vergleichsrahmen, aber der ist durchaus kompatibel mit den in der Studie gemachten Beobachtungen.
Der Mensch ist ein Augentier. Der Anteil an Energie, der für diese Organe vom Körper bereitgestellt und verbaucht wird, ist signifikant und daher wesentlich. Alles, was wir bildhaft darstellen, und dazu gehört auch Schrift, bildet unweigerlich auch Denkstrukturen ab, da unser Denken visuell geprägt ist. Es ist nur logisch, dass "Lernen" (sowohl Gedächtnisleistung als auch Zusammenhänge-Verstehen) mit visuellen Reizen besser gelingt, als ohne.
Computer sind heute gleichwertig zu Stift und Papier.
Auch da liegst Du falsch. Die von mir verlinkte Diskussion hast Du gänzlich mitverfolgt? Dort kamen durchaus Leute aus der Praxis des Unterrichtens zu Wort (nicht nur ich)!
In 20 Jahren sollte diese Studie wiederholt werden mit Probanden, denen von Anfang an beide Möglichkeiten zur Verfügung standen. Es würde mich nicht wundern, wenn sich Stift & Papier sowie elektronische Werkzeuge angeglichen haben.
Sollen wir eine Wette abschließen? Ich wette sofort dagegen.
Ich will nicht ausschließen, dass das Lernen mit Stift & Papier dann immer noch besser abschneiden etwa aufgrund der kognitiv-motorischen Besonderheit der Handschrift, aber vermutlich ist die Differenz geringer.
Du berücksichtigst anscheinend nicht, dass die Konzentrationsfähigkeit von Heranwachsenden durch diese Medien messbar vermindert wird. Lernen erfordert ein hohes Maß an Konzentration! Wenn diese messbar vermindert wird, ist es da unlogisch zu schlussfolgern, dass diese Medien das Lernen ausbremsen? Es ist nicht nur ein anderes Lernen (das propagierst Du), es ist vor allem ein ausgebremstes und weniger effizientes Lernen (das propagiere ich). Das einzige Argument, das ich Dir zugute halten kann, ist das Alter der Testgruppe. Je älter die Probanden, desto eher könnte ich mir ein "Angleichen" vorstellen - aber niemals ein "Gleichauf" der beiden Medien!
Liebe Grüße,
Felix Riesterer.
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