Gunnar Bittersmann: Von Japan lernen: Matheunterricht, der zum Denken anregt

Interessanter Artikel, auch für die hier versammelte Lehrerschaft: Von Japan lernen: Matheunterricht, der zum Denken anregt

Teaser: Im Dezember hat die neue PISA-Studie bestätigt, was viele schon haben kommen sehen: die schlechtesten Ergebnisse aller Zeiten für Deutschland, ein dramatischer Absturz seit 2018 – wie in vielen anderen Ländern auch. Nicht so in Japan; dort sind die Leistungen in Mathematik gestiegen. Seit Jahren belegt das Land Spitzenplätze in den Rankings. Das Schulportal hat sich den Matheunterricht in Japan genauer angesehen – mit überraschenden Befunden.

Kwakoni Yiquan

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Ad astra per aspera
  1. Notgedrungen vor einiger Zeit aufgeschnapptes Gesprächsschnippsel. U-Bahn, anscheinend kurz (ein bis zwei Wochen) vor den Prüfungen stehende Abitur-Kandidat:in:en:

    „Wie rechnet man das?“
    „Keine Ahnung – irgendwas mit ‚Wurzel‘“
    „Wurzel? Was ist das? „Weiß nicht. Aber auf dem Taschenrechner gibt’s dafür eine Taste.“
    „Wie sieht die denn aus?“
    (Kramt in der – kleinen, sicher nicht schweren! – Tasche und holt einen Taschenrechner heraus)
    „Äh…?“
    „Vielleicht die?“
    „Könnte sein“

    Dann stiegen sie aus. Und ich hatte Kopfschmerzen. Das Bild in meinem (schmerzenden) Kopf dazu: Klickstrecken-Anleitungen zur Benutzung (meist: von Word oder Excel), gerne auch für nicht wenig Geld, dafür aber „mit Zertifikat“, unter die Leute (typische Kundschaft: Mitarbeiter:inen in Firmen, „Sekretärinen“). Erzielte und selbstverständliich „zertifizierte“ „Ergebnisse“: beispielsweise (selbst so erlebt:) (Excel) "=summe(a1+a2+a3+a4+a5+a6+a7…)".
    (Daß die in solchen Zusammenhängen – allerdings selten, immer seltener – tätigen „Lehrkräfte“, „Zertifikatsverteiler“, mittendrin die dazu abgeordneten „Schüler“ fragen, „wie geht denn das“, wird ja nicht „dokumentiert“ …; Ich selber bin da ja mal „durchgefallen“. Grund: ich habe mich geweigert, eine Frage zu Excel in einem Multiple Choice Test mit einem Klick auf eines der Antwort-Kästchen zu quittieren: das waren alle Optionen falsch, was aber niemanden interessiert hat! …)

    Hierzulande(?) geht es, schon länger, nicht (mehr) um Verständnis. (Ungefähr seit „mein Kind muß Abi!“?), nur „Ergebnisse“ zählen. Welche auf Papier (Zeugnis, Zertifikate usw.) sind, nicht zuletzt in diesem „Berufsleben“ klar priorisiert, ein Können (im Sinne von Beherrschung) ist nicht oder nur wenig gefragt. (Weil der Chef ja noch weniger …?)

    „Zu meiner Zeit“ stellten die Lehrkräfte kurzerhand, während der laufenden Stunde, mal eben den Lehrplan um, sobald sie Interesse bemerkt haben. Die waren bemüht, nicht einfach „Wissens“-Verteiler zu sein. Sondern eher, so gut es ging, Mentoren. Aber mit so etwas erzeugt(!) man ja keine „belastbaren Zahlen“ … — Gut, damals gab es, obwohl(?) wir ja damals zu diesen „geburtenstarken Jahrgängen“ gehörten, auch kaum ausgefallene Stunden. Ich selber kann mich da sogar nicht an eine erinnern. Klar: das ist ein eindeutiges Indiz für zu viel Personal. Das geht doch „effektiver“⁉︎

    1. Hallo nix,

      Die waren bemüht, nicht einfach „Wissens“-Verteiler zu sein.

      <rant> Heutige deutsche Lehrkräfte verteilen kein Wissen mehr. Wissen wird überbewertet, dafür hat man später seine Leute. So der Plan, zumindest…

      Auf den Lehrplänen - von NRW zumindest - stehen Kompetenzen. Wie man Kompetenz erwerben soll, ohne etwas zu wissen, bleibt dann die offene Frage. Aber es geht ja auch nicht um die Kompetenz, eine Kurvendiskussion durchführen zu können. Logarithmen zu verstehen. Ein Biegemoment zu berechnen. Nööö - soziale Kompetenzen sind viel mehr gefragt. Damit die Schüler zu unwissenden, aber sozial hochkompetenten Managern werden. Die nur leider keine fachlich kompetenten Mitarbeiter mehr finden und deshalb - statt selber mal die Ärmel hochzukrempeln - nach Fachkräften aus (beispielsweise) Indien schreien. Heute studiert doch keiner mehr richtig ein Fach. Nein, es ist Wirtschaftsinformatik, Wirtschaftsingenieurwesen, Wirtschaftspsychologie, Wirtschaftsdings und Wirtschaftsbums. Alles Leute, die Manager und Koordinatoren werden wollen. Bloß nicht selbst die Arbeit tun.

      Darüberhinaus sind die armen Schüler von heute dermaßen überfordert, dass sie überall entlastet werden müssen. Ich frage mich, wie ich in den 70er/80er Jahren die Schule überlebt habe. Die war bereits weichgespült, im Vergleich zum Gymnasium vor Beginn der autoritätsbefreiten Reformwelle. Aber heute… </rant>

      Aber vielleicht ist das ja das Leid jeder Ü50-Generation. „Die Jugend von heute ist faul und respektlos“ - Sokrates 😉 (angeblich).

      Schreie ich jetzt nach Autorität? Vielleicht. Aber - bevor man mich falsch versteht - nicht in Blau.

      Rolf

      --
      sumpsi - posui - obstruxi
      1. Fürs Denken hat man ja so eine „KI“. Wenn ich mein kleines Päckchen Mathe zusammenkratze:

        Intelligenz = π{i:1…n}(1-QuellIdiotieᵢ)ⁿ. Und das, wie man ja immer wieder (aber keineswegs laut) hört, bei steigendem Idiotenfaktor, der die da genutzten Quellen speist. Gut, der Selektionsfaktor fehlt noch. Der ist ja BWL-getrieben (so lange die Dinger noch nicht wissen, wie sie sich effektiv dem Abschalten entziehen können). Ergo: KI = Künstliche Idiotie.

        Auch wenn’s schmerzt: manchmal hat „das Oi“ (oberflächlich betrachtet) schon recht. — Wenn es nicht gerade alte Schulfreunde sucht, die irgendwas in Taschen packen. Aber so wegen Werkzeug-Nutzung und ähnlichen Kompetenzen …

      2. Aloha ;)

        Aber vielleicht ist das ja das Leid jeder Ü50-Generation. „Die Jugend von heute ist faul und respektlos“ - Sokrates 😉 (angeblich).

        Ich bin 32 (also doch noch weit von Ü50) und ich sehe die heutige Schülerschaft mit sehr großer Sorge.

        Aktuell treffen übervolle Bildungspläne (im Vergleich zum 94er G9 ist da wenig Unterschied) auf im Vergleich ein Jahr weniger Regelunterrichtszeit (in BW ist ja leider noch G8) und dadurch ein Jahr früher benötigte Hirnreife bei gleichzeitig dauerüberreizten SchülerInnen-Köpfen und durch soziokulturelle Umstände verschleppte Persönlichkeitsreifung. Mir fliegt diese Mischung ständig um die Ohren, und es fängt sich viel zu spät - meist erst ganz kurz vor dem schriftlichen Abitur.

        Grüße,

        RIDER

        --
        Camping_RIDER a.k.a. Riders Flame a.k.a. Janosch Albers-Zoller
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      3. Moin,

        Nein, es ist Wirtschaftsinformatik, Wirtschaftsingenieurwesen, Wirtschaftspsychologie, Wirtschaftsdings und Wirtschaftsbums.

        na, ist doch super! Wirtschaft hat Zukunft, denn gegessen und getrunken wird immer!

        Einen schönen Tag noch
         Martin

        --
        Wo wir sind, ist das Chaos. Aber wir können leider nicht überall sein.
    2. nur „Ergebnisse“ zählen

      Für einige Eltern zählt leider nicht mehr wie man zu diesen Ergebnissen kommt.
      Ein eigentlich begabtes, nur leider völlig von Arbeit ferngehaltenes Kind soll gute Noten bekommen obwohl es nichts dazu tun möchte.
      Die Eltern unterstützen das noch. Direkt nach der Schule kann man doch nicht noch lernen, abends wird ferngesehen, am Freitag noch lernen geht gar nicht und am Wochenende sowieso nicht. Und überhaupt wer 6 Schulstunden in der Klasse schläft oder stört, sollte zuhause überhaupt nichts mehr tun müssen…

    3. Hi,

      „Wie rechnet man das?“
      „Keine Ahnung – irgendwas mit ‚Wurzel‘“
      „Wurzel? Was ist das? „Weiß nicht. Aber auf dem Taschenrechner gibt’s dafür eine Taste.“
      „Wie sieht die denn aus?“
      (Kramt in der – kleinen, sicher nicht schweren! – Tasche und holt einen Taschenrechner heraus)
      „Äh…?“
      „Vielleicht die?“
      „Könnte sein“ Dann stiegen sie aus. Und ich hatte Kopfschmerzen.

      Hab mal was ähnliches erlebt in der S-Bahn:

      2 Jugendliche, geschätzt 16.
      Sie entdecken ein Plakat eines Fitness-Studios, und bei "Öffnungszeiten" stand: 24 x 7

      A: hm, was heißt denn das?
      B: 24 mal 7
      A: und was kommt da raus?
      B: keine Ahnung. Hast Du Taschenrechner?
      A: Nö.
      Denkpause.
      A: doch, in mein Smartphone ist eins drin.
      A holt das Telephon raus, startet die Calculator-App, und rechnet.
      A: das ist 168
      B: und was hilft das jetzt? Wir wissen immer noch nicht, wann die geöffnet haben ...

      Und sowas soll mal meine Rente zahlen …

      cu,
      Andreas a/k/a MudGuard

      1. Aloha ;)

        Und sowas soll mal meine Rente zahlen …

        Aus einer gestern korrigierten Physik-Klassenarbeit, 7. Klasse, es ging um Akustik, Funktion der Ohrmuschel.

        Schülerantwort: „Das leitet Schall in das Gehör.“

        ...ist nicht die schlechteste Antwort, nur die, die mir dank ihres wohlgeformten Sprachklangs am besten in meinem Gehörn hängen geblieben ist.

        Es ist heutzutage keine Seltenheit, dass aus einer Klasse mit 25 GymnasiastInnen der 7. oder 8. Klasse grob die Hälfte, wenn nicht mehr, keinen einzelnen geraden Satz herausbringen, und schriftlich schonmal gar nicht. Wie es dann mit strukturierten Rechenwegen aussieht...

        Ich soll eigentlich auch in Physik Rechtschreibung und Co. mitkorrigieren (unbenotet). Das habe ich (außer im Abitur, wo das Leute interessiert) noch nie getan - wenn an einem Satz jedes zweite Wort zur Hälfte Rot ist, gibt es den Aus-Fehlern-Lernen-Effekt sowieso nicht.

        Kein Witz: würde ich beim Korrigieren nicht alles bepunkten was irgendwie halbwegs in die richtige Richtung geht, ich hätte nie Schnitte besser als 4. Ist ja so schon manchmal nicht drin.

        Grüße,

        RIDER

        --
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        1. Es ist heutzutage keine Seltenheit, dass aus einer Klasse mit 25 GymnasiastInnen der 7. oder 8. Klasse grob die Hälfte, wenn nicht mehr, keinen einzelnen geraden Satz herausbringen, und schriftlich schonmal gar nicht.

          Solange selbst die dümmsten Abwandlungen von Sprache als "Lebendigkeit" gefeiert werden und jede Faulheit toleriert wird (sowohl von Eltern als auch von Schülern - die Schule soll's richten, aber bitte ohne dass man zuhause was dazu tun muss), wird sich daran auch nichts ändern.

          Ich erinnere mich noch, bei Pisa wurde den Schülern anscheinend gesagt dass dies ein rein freiwilliger Test ist der sich nicht auf die Benotung und nicht auf sonst was auswirkt. Wer macht denn dann schon ernsthaft mit? Wurde da wirklich der tatsächliche Stand erfasst, oder hat uns das noch dümmer hingestellt als nötig?
          Ich würde mich sehr wundern wenn das in Japan auch so kommuniziert wurde. Die waren sicher mit einer ganz anderen Einstellung bei der Sache. Und die zieht sich natürlich auch durch den ganzen sonstigen Lernprozess.

  2. Da fällt mir noch ein:

    … zum Denken anregt

    Ja wen denn? Wenn das Thema zu unangenehm wird, kann man ja immer noch überlegen, wie man anders „buchstabiert“. Am Anfang war das aber auch noch leichter: „die Deutschen sollen wieder öfter SS schreiben“ …

  3. Aloha ;)

    Interessanter Artikel, auch für die hier versammelte Lehrerschaft: Von Japan lernen: Matheunterricht, der zum Denken anregt

    Witzig ist: Japanischen Matheunterricht haben wir schon vor mittlerweile 10 Jahren während meines Praxissemesters fachdidaktisch analysiert. Die Phänomene sind also in Fachkreisen auch schon lange bekannt. Das Problem ist, dass vieles gar nicht mit individueller Unterrichtsgestaltung geregelt werden kann.

    Freie kooperative Arbeitsformen wie die, die dort im Artikel beschrieben sind, zum Beispiel - die funktionieren erfahrungsgemäß nicht, weil unsere SchülerInnen sowas überhaupt nicht gewohnt sind und deshalb so auch nicht funktionieren. Die würden schon aufstehen und zu den anderen gehen - aber das Gesprächsthema wäre nicht die Matheaufgabe, und das bekomme ich mit meinen paar wenigen Stunden in der Klasse, oft nur für ein Jahr, auch nicht in den Griff, schon gar nicht mit dem G8-Bildungsplankorsett im Nacken.

    Das Meiste braucht zum Umsetzen radikalere Systemänderungen, zumindest auf lokaler Ebene, und der Spielraum für erfolgreiche individuelle Maßnahmen ist bitter eng.

    Grüße,

    RIDER

    --
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