Stefan Muenz: das Netz und sein SPIEGEL

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Liebe Forumer,

hab vorhin in einer Kneipe gesessen, den SPIEGEL dieser Woche gelesen und so ein wenig nachgedacht. Dieses Magazin ist seit einiger Zeit dermassen voll mit Internet-Themen, dass es einem schon fast zum Hals raushaengt. Oder sagen wir so: die Gedanken, die dort aufblitzen, sind sehr anregend. Aber es ist halt das uebliche SPIEGEL-Gedanken-Stakkato, das man entweder mit sueffisantem Laecheln konsumiert, oder das man entnervt beiseite legt, wenn man ueber die Gedanken, die da angerissen werden, mal ernsthaft nachdenken will.

Noch vor wenigen Wochen hat der SPIEGEL die ganze E-Commerce-Szene in den Himmel gehoben und wilde Prophezeihungen ausgestossen, in welchem Ausmass all diese irren, hippen Startups die Weltwirtschaft umkrempeln werden. Nun haben irgendwelche angesehenen Boersianer Tacheles geredet, und es gibt erste Schnuppen bei den neuen Sternchen am Unternehmenshimmel. Der SPIEGEL bleibt hochaktuell und suhlt sich nun in vernichtenden Aussichten fuer den ganzen E-Commerce.

Ein Artikel weiter geht es um einen armen Bewohner des des Silicon Valley, der aufgrund seiner Programmierkuenste mittlerweile einige Millionen auf dem Konto und zwei Highspeed-Standleitungen sowie diverse andere Internet-Zugaenge besitzt, aber wegen Zeitmangel Frau und Hund mit Hilfe digitaler Surround-Sounds simulieren muss. Und diesen "typischen Internetter" laesst der SPIEGEL behaupten, er koenne nicht ohne E-Mail leben. Dabei weiss heute jedes Kind, dass E-Mail voellig ungefaehrlich ist, und dass die wahre Killerapplikation der Kommunikationswelt ICQ heisst. Schlecht recherchiert also.

Worauf ich hinaus will? Ich will meiner Zwiespaeltigkeit Ausdruck verleihen. Einerseits befriedigt es mich ungemein, dass Publikationsorgane wie der SPIEGEL, die sich ueber Jahrzehnte einen gewissen "Top-Down-Nimbus" ("wir sagen euch wo's brennt") erarbeitet haben, sich beim Berichten uebers Internet wie aufgeregte Papageien auffuehren. Andererseits zeigt dies, wie unsicher das Netz die Menschen macht, wie sehr es sie aufwuehlt, wie viele Fragen es unbeantwortet laesst, und vor allem: wie wenig es von den Massen, die in es hineindraengen, verstanden wird.

Die befuerchtende Frage, die sich mir stellt ist: frisst sein Spiegel das Netz auf? Tragen Organe wie der SPIEGEL dazu bei, das Bild des Netzes in der Oeffentlichkeit zu verzerren und es auf Einseitigkeiten aus dem Silicon-Valley und der Boersenwelt zu reduzieren? Der SPIEGEL behauptet in der gleichen Ausgabe unter anderem auch, dass die herkoemmliche, "elitaere" Nettiquette ausgedient habe, weil nun die grossen Mega-Konzerne den Netzausbau von der OSI-Schicht 1 an uebernehmen und in Zukunft entsprechend kontrollieren und regulieren werden. Frei nach dem Motto: du kannst deine IP-Pakete gerne ueber unsere superschnellen Leitungen transportieren - kostet nur extra (wobei angenommen wird, dass die anderen Leitungen schon laengst verschimmelt sind und keine sinnvolle Alternative zum Routing mehr darstellen).

Noch mal anders ausgedrueckt: Organe wie der SPIEGEL sorgen mit ihrer Schreibe zum Thema Internet fuer staendig erhoehten AdrenalinSPIEGEL beim Leser. Diese Art Schreibe existiert natuerlich auch laengst im Netz selber. Sogenannte Online-Redakteure, die noch nie was von HTML und anderen Web-Techniken gehoert haben, speisen taeglich etliche Megabytes ins Web, die den Leuten das Netz erklaeren. Was lernen diese Leser ueber das Netz? Mit welchen Vorstellungen und Anspruechen besuchen sie dann Inseln wie diese hier?

Oder noch anders ausgedrueckt: kann man Leuten, die ihre Ansichten uebers Netz aus dem SPIEGEL haben und nun irgendwie "drin sind", noch irgendwie helfen? Kann man ihnen begreiflich machen, dass es analog zum "Umweltschutz" einen "Netzschutz" geben muesste, um einen schnellen Exodus zu verhindern? Kann man den "grossen Massen" wirklich begreiflich machen, worin das besteht, was das Netz so faszinierend macht? (wobei die SPIEGEL-Leser ja noch die harmlosesten sind - andere Zeitschriften sind so schlimm mit ihrer Internet-Berichterstattung, dass ich mich weigere, hier ihre Namen zu nennen).

Also Leute - das Neue am Netz ist, dass nicht nur der SPIEGEL oeffentlich sagen kann, wo's brennt. Wir koennen das auch - zum Beispiel in diesem Thread ... (wobei wir ganz nebenbei auch mal demonstrieren koennen, dass so ein Web-Angebot eigentlich unters Mediengesetz faellt und nicht unters Teledienstgesetz).

So, ich hoffe, das ist genug Gedankenfutter fuer's Wochenende ;-)

viele Gruesse
  Stefan Muenz