Hi Mathias,
ich glaube, so etwas hier nennt man Threaddrift ;-)
Das Universum des "Was-geschah-danach", wie es Rushdie nennt, funktioniert bei Karl May ziemlich perfekt, Spannungselemente gibt es genug.
Du bist ziemlich belesen, kann das sein? Rushdie habe ich noch gar nicht gelesen, und ich kann mir momentan auch nur so ungefähr denken, was er damit meinen könnte ...
Es gibt aber auch deutliche Schwächen, etwa die arg gekünstelten Dialoge, die laut gesprochen zur Lachnummer werden,
Man kann aber auch seine Freude daran haben, wenn man nicht auf puren Realismus aus ist. Ich finde es z.B. immer Klasse, wenn Kara/Scharlih/Karl Stunden später die Aussage eines Gesprächspartners wortgetreu wiederholt ;-)
oder die Selbststilisierung zum Übermenschen, der dutzende von Sprachen perfekt spricht, mit allen Herrschern der Welt befreundet ist, perfekter Schütze und Faustkämpfer und Freund aller Entrechteten ist.
Mal vorausgesetzt, dass das, was in "Ich" als Autobiografie von Karl May zu lesen ist, tatsächlich von ihm ist und dass er seine Aussagen darin auch so meint, dann handelt es sich mitnichten um die _Selbst_stilisierung des Autors zum Übermenschen, sondern sozusagen um das "personifizierte Gute", sozusagen den Menschen, wie er von jedem Gläubigen angestrebt werden sollte. Unter dieser Prämisse liest sich das gleich etwas anders. Andererseits ist natürlich auch zu berücksichtigen, dass selbst die Haputfigur oft fatale Fehler macht, die dann zwar später ausgebügelt werden können oder sich sogar letztlich als Vorteil herausstellen, aber trotzdem Fehler sind.
Auch die Stilisierung der "mithelden" zu klischeehaften Chargen ist eher schwach.
Wobei die _wirklichen_ Mithelden doch sehr positiv beschrieben sind. Sei es nun ein Winnetou oder ein Halef Omar oder eine der anderen "sehr tüchtigen" Figuren "ohne Fehl und Tadel", sie sind teilweise sogar der Hauptperson ebenbürtig. Interessant in diesem Zusammenhang finde ich übrigens die Entwicklung von Halef. Im Gegensatz zu Winnetou, der immer schon perfekt war, wandelt er sich vom "kleinen Helferlein" zu einem geachteten Freund mit erstaunlichen Qualitäten.
Was die anderen Mithelden - ich würde sie eher Nebenhelden oder Mitläufer nennen - betrifft, so hast du natürlich vollkommen recht. Das erinnert dann oft an Schulfreundinnen (wie oft sieht man ein sehr hübsches und ein weniger hübsches Mädchen als beste Freundinnen? Nein, ich bin kein Macho!), Kara/Karl als Alleskönner und der Mitläufer als jemand, der alles vermasselt und Karl die Gelegenheit gibt, die Aktion doch noch zu retten.
Einer der seltsamen Aspekte, die auch Arno Schmidt analysiert, ist die verdeckte Homosexualität, etwa in der Person Kolma Pushi (Old Shurehand), der exakt wie Winnetou aussieht, sich dann aber als Frau entpuppt usw.
Kannst du mir sagen, was daran "seltsam" ist? Ich fand zwar auch immer etwas lustig, wie oft sich in den Romanen Männer gegenseitig auf den Mund küssen, aber es hat mich nie sonderlich gestört.
Auch der Humanismus hat etwas selbstgerechtes, immer siegt der rationale Westen über den irrationalen Osten, das Böse ist zugleich hässlich als auch grotenschlecht usw.
Das ist richtig. Auch erstreckt sich Karl Mays weltoffene Haltung nicht auf alle Menschen, die auf dieser Erde wandeln. Gerade die Afrikaner oder Asiaten kommen dabei oft nicht sonderlich gut weg. Aber, meine Güte, wann hat er diese Bücher geschrieben? Und so weit im Denken wie er damals sind viele heute noch nicht einmal, 100 Jahre später ...
Für große Literatur fehlt Karl May die dunkle Seite der Traumwelten, Ängste, Versagen, Schwächen des Helden, und die Faszination für das Fremde, das in seiner eigenen Größe präsentiert und nicht nur als Mumpitz entlarvt wird. Solche Stellen sind bei Karl May selten.
Damit hast du einerseits recht, andererseits erinnert mich diese Aussage ein wenig an den Deutschunterricht in der Schule (Deutsch LK ;-). Was mich dort _immer_ gestört hat, war, dass ich _nie_ ein Gedicht oder was auch immer einfach nur _schön_ oder _spannend_ finden durfte, nein, es musste immer "die Intention des Verfassers" herausgefunden und alles bis ins kleinste zerpflückt werden ("was sagt uns dieses Komma an genau dieser Stelle") - solange, bis die Schönheit wie ausgerupfte Blütenblätter am Boden lag. Und ob die herausgefundene mit der tatsächlichen Intention des Verfassers übereinstimmte, interessierte niemanden. (Diejenigen mit den besten Noten im LK waren übrigens die größten Schwätzer ...)
Was ist "große Literatur"? Wer definiert sie? Gibt es eine allgemeingültige Definition? Und wenn ja, wer hat sie aufgestellt und warum hat er/sie das Recht dazu? Ich hoffe, du verstehst mich hier richtig, du hast zweifellos recht mit deiner obigen Aussage. Ich finde es jedoch manchmal auch sinnvoll, einen Autor oder ein Werk "für sich" und _nicht_ im Kontext mit anderen Werken der Weltliteratur zu sehen. Es eröffnet unter Umständen einen ganz anderen Blickwinkel.
Schönen Sonntag noch!
O'Brien
Frank und Buster: "Heya, wir sind hier um zu helfen!"