Hi,
Mich erinnerte diese strikte Dogma Inhalt folgt Design oder auch umgekehrt an; "Was war zuerst da, das Ei oder das Huhn?"
Weil beides gehört eben zusammen.
Es gehört nicht zusammen, denn es gibt nur ein Entweder-Oder.
Beispiel:
Funktion sei es ein mit einem Kronkorken verschlossene Flasche zu öffnen. Dazu gibt es mehrere Methoden, auch wenn alle mehr oder weniger das Hebelgesetz im Auge haben. Hier folgt also die Form der Funktion.
Ich kann aber auch irgendetwas nehmen, es hübsch gestalten und dann ausprobieren ob es z.B. zum Kronkorkenentfernen taugt. Hier folgt also die Funktion der Form.
Beides hat seine Vor- und Nachteile, ökonomisch günstiger ist jedoch die Variante "Form folgt Funktion".
Es ist demnach nicht mit Huhn&Ei zu vergleichen, denn die Reihenfolge ist egal.
Genauso funktioniert es auch bei Webseiten.
Betreibt man das ganze kommerziell, überwiegen natürlich auch ökonomische Gedanken. Derjenige, der zahlt ist meist Kaufmann und nicht Webdesigner. Er hat aber erkannt, das ein qualitativ hochwertiges Prospekt "ordentlich was hermacht", der Kundenbindung dienlich ist. Deshalb beauftragt er einen Designer zur Gestaltung dieser Prospekte, die im Augenblick nur auf Papier zu drucken sind. Der Designer erhält also die Aufgabe eine Druckvorlage herzustellen, passend für Briefköpfe, Visitenkarten, Hochglanzprospekte usw. Das ist verdammt nicht billig, das kann ich ruhigen Gewissens verraten! Der Geschäftsmann bekommt nun mit, das sich auch im Netz ganz gut Geld machen läßt, vor allem sind die Kosten recht niedrig. Es fehlt nur noch ein Design für die Webseite, aber das ist ja kein Problem, er hat ja eines, das war ja schließlich teuer genug. Wenn man die aktuellen Browser nur ordentlich genug mißbraucht funktioniert das ja sogar. Da ist dann der Chef zufrieden und zahlt dem Webdesigner - der übrigens, wie gesehen, gar nichts designed hat - die Rechnung, damit ist auch der zufrieden. So ändert sich natürlich nichts und eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die sich durch das Netz bieten werden nicht genutzt.
Du sagst es ja selber:
Ich glaube das Medium Internet ist komplett anders
Nur schwenkst Du dann doch wieder in den alten Pfad ein:
(irgendwas zwischen gestalteten Dokumenten und funktioanlem Industriedesign),
Das ist es nicht, sondern es ist wirklich etwas _komplett_ anderes. Solange das nicht von einer Mehrheit, vor allem der zahlenden Mehrheit, erkannt wird liegen viel zu viele Möglichkeiten einfach brach. Da Kaufleute für gewöhnlich recht konservativ sind kann das noch sehr lange dauern, aber ich bin da einfach mal optimistisch.
Immerhin scheinen die Umsätze in dem Bereich exponentiell zu wachsen und sind auch in nackten Zahlen ansehnlich: Gartner Consulting schätzt den Umsatz 2004 auf deutlich über eine Billionen US$. Das ist zwar global, aber nichtsdestotrotz so langsam signifikant; ein Markt, den man nicht so ohne weiteres links liegen lassen kann.
Vielleicht ist das auch ein Grund, warum die Neuemission Google gut angenommen wurde. Trotz des bösen Erwachens nach Platzen der ganzen Dotcom-Seifenblasen. Hier funktioniert auf einmal, was viele Firmen vorher vergeblich versprachen: gezielte Werbung. Bei Google gibt der Kunde nämlich seine Wünsche selber ein, die Werbung ist unaufdringlich (das sie dadurch mitunter für ein reguläres Suchergebnis gehalten werden kann mal dahingestellt) und meist auch passend.
Jetzt stelle man sich einmal die Möglichkeiten vor, wenn sich eine semantische Darstellung an Stelle der optischen durchsetzt. Das geht zum Beispiel mit XML. Ich habe da freie Hand und kann XML-Elementen mit Bedeutung belegen, die optische Darstellung regele ich dann per CSS. HTML - bei dem Bedeutung und Darstellung mehr oder weniger fest verdrahtet sind - fällt dann ganz weg.
Offensichtlichstes Problem dabei: wie bekomme ich Bedeutung und Namen zusammen? Muß sich da jeder ein eigenes Süppchen bereiten oder kann man das in enge Schranken setzen? Beides würde eine ungeheure Menge an Vokabeln ergeben, theoretisch sogar infinit.
Nun gibt es aber glücklicherweise nur einen begrenzten Vorrat an Bedeutungen. Immer noch riesig, aber schon überschaubar.
Es ist also möglich Tim Berner-Lees Traum von einem semantisch geordnetem Web zu erfüllen. Wenn allerdings noch nicht einmal die absolute Trennung von Inhalt und Form angenommen, ja sogar stur und holzköpfig daran festgehalten wird, sehe ich so schnell kein Land.
so short
Christoph Zurnieden