Lieber Malcolm Beck´s,
hier mal eine Antwort von einem Lehrer, der Dir aus der Praxis ein paar Details sagen kann, an die Du vielleicht nicht genügend gedacht hast...
Kinder lernen meist durch das Spielen mit Dingen. Daher ist Spielen ihre Natur. Der Spieltrieb ist sehr stark, weshalb wir in der Schule oft dagegen ankämpfen müssen, da Kinder grundsätzlich selbst bestimmen, womit sie spielen. Nicht immer wollen Kinder gerade das lernen, was die Lehrkraft im Unterrichtsgeschehen als Lerngegenstand geplant hat. ;-)
Damit das Schulbuch durch eine modernere Technik ersetzt werden kann, muss diese gewisse Beschränkungen in der Bedienung mitbringen, die das bisherige Schulbuch auch bietet. Deshalb finde ich die Idee mit dem Tablet nur bedingt alltagstauglich. Als Schulbuchersatz darf das Gerät keinerlei Spielereien bieten, da sich sonst Schüler gerne ablenken lassen und dann auf dem Gerät "daddeln", anstatt damit zu arbeiten.
Du hast sicherlich gemerkt, dass ich von "Schulbuchersatz" schreibe, nicht jedoch von "Heftersatz". Mir wäre die Idee des reduzierten Gewichtes den horrenden Energiebedarf wert, den die Menge der Schulbücher in den Schultaschen momentan darstellen. Man darf gerne einmal nachrechnen, wieviel Energie für die Herstellung eines Exemplars aus einer Schulbuchauflage aufgewandt werden muss, bis dieses in Schülerhand kommt. Wieviel Energie spart man in der Herstellung, wenn man das Schulbuch auf einem "Lesegerät" anbietet, und wieviele Aufladezyklen braucht es, bis diese Rechnung zu Ungunsten des Lesegeräts ausfällt?
Du hast "Tablet" geschrieben, weil Du dieses Gerät sowohl zum Lesen, als auch zum Schreiben nutzen möchtest. Da muss ich Dir in Erinnerung rufen, dass Du sicherlich in der Schule vor einem aufgeschlagenen Schulbuch gesessen hast, während Du in Dein Schulheft geschrieben hast. Wie soll diese Situation jetzt konkret auf einem Tablet aussehen? Wie vereint es die Aufgabe "Schulbuch" mit der Aufgabe "Schulheft" in genau dieser Situation? Aktuelle Geräte haben nur einen Bruchteil der Fläche zu bieten, die sowohl das Buch, als auch das Heft haben, ganz zu schweigen von der Summe beider Flächen!
Wenn man einmal verstanden hat, dass Lernen nicht nur mit Verstehen, sondern auch mit Begreifen zu tun hat, dann weiß man, dass das selbst-aufschreiben einen anderen Lerneffekt hat, als das bloße Lesen. Unser Gehirn vernetzt Aspekte. Diese Eigenschaft hat ganz besondere Bedeutung für das Lernen. Wenn ich Dir das Wort "Katze" in einem Gespräch sagen würde, kämen Dir ganz plötzlich die verschiedensten Aspekte einer Katze in den Sinn: Form und typische Fellfärbungen, das Tastgefühl beim Streicheln einer Katze, das Geräusch beim Schnurren oder Miauen, das Gefühl der kratzenden und in die Haut stechenden Krallen, das Zittern der Barthaare, die typische Bewegung beim Schmusen (wenn die Katze den Rücken krümmt, damit die Streichelbewegung darüber intensiviert wird) und so weiter und so weiter. Alle diese Eindrücke werden Dir von Deinem Gehirn zusammengetragen, wenn Du den Begriff "Katze" wahrnimmst.
Das Wort "Begreifen" hat etwas mit "greifen" zu tun. Wenn Du noch nie eine Katze mit Deinen Händen angefasst hast, dann wirst Du einige dieser Eindrücke nicht zur Verfügung haben. Das, was eine Katze ausmacht, wirst Du nicht wirklich vollständig gelernt haben. Du hast dann einfach noch nicht "begriffen", was eine Katze ist. Und das Lesen in der Wikipedia wird Dir da nur sehr begrenzt weiterhelfen können.
Gerade für Kinder ist es wichtig, dass sie mit allen Sinnen lernen. Dabei lernen sie nicht nur etwas über die Dinge selbst, sondern auch, wie sie sich mit ihnen auseinandersetzen. Und das eigene haptische Tun gehört da einfach dazu - und wenn es nur das Aufschreiben ist. Mit den eigenen Händen Gedanken in Schriftform festzuhalten ist deswegen wichtig.
Wenn Du an die in diesem Thread bereits erwähnte feinmotorische Bildung der Kinder denkst, dann ist alles, was diese fördert, unbedingt zu nutzen. Kinder, die nicht mit Stift und Papier hantieren, werden feinmotorisch garantiert Mängel haben, die ihnen später vielleicht Nachteile verschaffen, denn wenn unser Gehirn mit Vernetzungen arbeitet, dann ist Motorik grundsätzlich etwas, auf das wir keinesfalls in der Entwicklung verzichten können.
Außerdem weiß ich nicht, inwiefern die Haptik von Stift und Papier (jetzt nimm nur Bleistift, Kugelschreiber und Federhalter!) auf einem Tablet so fein nachgebildet werden kann, dass die ganze Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten beim Schreiben oder gar Zeichnen erhalten bleibt. Von künstlerischen Qualitäten einmal ganz abgesehen.
In dieser Hinsicht bin ich mir absolut sicher, dass das Schreiben auf einem Tablet grundsätzlich eine motorische und sensorische Verarmung bedeuten würde, vor der ich die Heranwachsenden unbedingt schützen wollte!
Es stellt sich auch regelmäßig bei pubertierenden Schülerinnen und Schülern die Frage, ob man das uncoole Heft durch den viel cooleren (und sowieso endlos praktischeren!) Aktenordner ersetzen darf. Die lose Blättersammlung, die spätestens nach einem halben Schuljahr unvollständig geworden ist, die ständige Not bei Papiernachschub, der immer alle Fächer beinhaltende Ordner, der deshalb schwerer wiegt, als er an diesem Tag wiegen müsste - alles das kann vielleicht helfen, die eigene Sorgfalt und Selbstorganisation zu üben - oder eben einzusehen, dass man aufgrund der eigenen Neigung vielleicht doch besser ein Heft für das jeweilige Fach führt.
Schülern sollte man grundsätzlich so viele Lerngelegenheiten schaffen, wie möglich!
Was ich mir durchaus vorstellen könnte, wäre eine Art E-Book-Reader, der die Schulbücher ablöst. Dieser Reader müsste dann aber eine deutlich größere Displayfläche haben, müsste in Farbe darstellen, physikalisch biegsam sein (damit das Display nicht zerbricht), den Ängsten der Verlage vor Raubmordkopierertum abhelfen und Schülern keine Möglichkeit bieten, daran irgendwie herumzudaddeln.
Das Schulheft kann ich mir in elektronischer Form nicht vorstellen. Da fehlen mir bei einem Tablet bisher die oben schon besprochenen Möglichkeiten, die Stift und Papier bieten. Alternativen zum Tablet kenne ich spontan jetzt auch keine, die irgendwie in Frage kämen.
Was Klassenarbeiten angeht, so will ich diese nach wie vor auf Papier schreiben lassen. In vielen Fächern reicht es nicht, die richtige Antwort der multiple choice-Aufgabe anzukreuzen. Oft will ich Begründungen oder Interpretationen erhalten, deren Wortlaut von einer Software bisher nur bedingt bewertet werden kann. Kreative Schreibaufgaben im Fremdsprachenunterricht kann eine Software nicht wirklich sinnvoll bewerten, daher braucht eine solche Aufgabe auch nicht am Computer erledigt zu werden. Dort stünden sowieso nur unzulässige Hilfsmittel bereit, die das Problem des Betrugs unnötig ins Spiel bringen. Und der Verlust der sensorisch-motorischen Übung beim Verfassen wird eben nicht von einer vereinfachten weil software-gestützten Korrektur meinerseits gerechtfertigt.
Deine Idee mit dem Internet als Quelle für Lehrmittel ist auch etwas zu kurz gegriffen. Die redaktionelle Arbeit der Verlage hat durchaus ihren Sinn. Eine Lehrmittel-Landschaft auf Wiki-Basis (so etwas wie eine Lehrbuchwikipedia) kann unmöglich genügen. In meiner eigenen Arbeit habe ich immer wieder Bedarf an maßgeschneiderten Arbeitsblättern, da die vom Verlag für das Lehrbuch angebotenen Materialien nicht immer in meiner konkreten Situation ausreichen. Das kann dann auch ein Internet nicht abdecken, sondern erfordert mein persönliches Handwerk.
Wenn Du die Lerninhalte alle online beziehen willst, und wenn Du die "Erklärungen" der Lehrkraft durch alternative Erklärungen aus dem Internet anreichern willst, welche Rolle gestehst Du denn dann noch einer Lehrkraft zu? Inwiefern ist die Wissensvermittlung und die Aufbereitung (Stichwort "didaktische Reduktion") noch gefordert? Das klingt für mich sehr schnell nach Moodle-Unterricht: "Hier ist das Material, im Internet findet ihr Erklärungen und weitere Informationen dazu. Macht mal. Eine Beispiel-Klassenarbeit ist dabei, mit der ihr dann prüfen könnt, ob ihr alles gelernt habt." Da 99,9% meines unterrichtlichen Tuns in einem Klassenzimmer stattfinden, kann ich eine solche internetbasierte Geschichte nicht gebrauchen. Ein Browser in Kinderhänden ist der perfekte Zeitkiller. Da muss vorher eine sehr klar umrissene Aufgabenstellung her, damit die Zeit von den lieben Kleinen nicht sinnlos verballert wird (siehe "Spieltrieb" oben). Außerdem sind solche "Surfstunden zur Recherche" bei mir absolute Ausnahme, da der Ertrag jedes Mal sehr überschaubar ist.
Zufälligerweise war gestern und heute das Netzwerk kaputt, sodass man sich an den Schulrechnern nicht anmelden konnte. Solche Ausfälle sind zwar sehr selten geworden, jedoch ist die Filtersoftware für unliebsame Internet-Inhalte oft unberechenbar, sodass man sich als Lehrkraft sehr ungern auf die Verfügbarkeit dieses Mediums verlassen möchte. Dabei geht es uns an unserer Schule in dieser Hinsicht echt gut!
Studien zufolge ist der Konsum von "Bildschirm-Medien" (Prof. Dr. Manfred Spitzer) nachweislich problematisch. Das verstärkte Hinführen zu diesen Medien mag daher mit sehr viel Bedacht geschehen. Weniger ist in meinen Augen hier wirklich mehr. Im Unterricht will ich lieber mit der Tafel, dem (wie auch immer gearteten) Schulbuch und dem Schülerheft hantieren. Was in der Freizeit passiert, das überlasse ich dann den Eltern, mit denen ich die Erziehungsaufgabe laut Schulgesetz zu 50% teile...
Wenn das jetzt gerade technikfeindlich geklungen haben sollte, dann vergiss bitte nicht, dass ich mich mit Lernangeboten auf Internetseiten intensiv beschäftigt habe. Nicht nur auf meiner privaten Website siehst Du Ergebnisse dieses Tuns. Aktuell bin ich aber nach wie vor der Meinung, dass das Internet vor allem im privaten Bereich der persönlichen Vertiefung dienen kann, dass jedoch an der Schule der Unterricht im Klassenzimmer (oder Fachraum) stattfindet und daher unsere Aufmerksamkeit vor allem dieser Situation gelten sollte. Fernstudium und Moodle-basiertes Lernen empfinde ich vor allem für diejenigen nützlich und wertvoll, die unsere Schule bereits verlassen haben und aufgrund ihrer persönlichen Reife eher in der Lage sind, eigenverantwortlich und selbstorganisiert mit diesem Medium erfolgreich zu lernen als beispielsweise Sechst- oder Neuntklässler.
Eine Sache noch: Schulen miteinander zu vergleichen ist eine sehr undankbare Aufgabe. Ich habe das an unserer Schule einmal sehr eindrucksvoll miterleben dürfen. Wir wurden "fremdevaluiert". Der Prozess und die dabei gewonnenen Ergebnisse waren wunderbar dysfunktional. Deshalb wäre ich sehr vorsichtig und würde mir sehr genau überlegen, was ich genau vergleichen möchte, und warum. Gerade hier in Baden-Württemberg haben sich die Schulen Profile gegeben, eben weil sie nicht vergleichbar sind und unterschiedliche Schwerpunkte anbieten. Eine Werkrealschule mit einem Musikzug-Gymnasium zu vergleichen kann nur mit Blick auf eine sehr enge Auswahl an Eigenschaften sinnvoll sein, wobei man sich allen Ernstes fragen lassen muss, wozu dieser Vergleich dienen soll.
Genug jetzt, ich will ins Bett.
Liebe Grüße,
Felix Riesterer.
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