Liebes Auge,
Warum aber gleitest du hier in Richtung Verschwörungsblabla ab?
schon möglich, dass ich da für viele zu weit gegangen bin. Aber ich beobachte zur Zeit einige Trends im Umgang miteinander, die mich sehr nachdenklich stimmen und zur Vorsicht mahnen.
- Höflichkeit als Konzept
Der Umgang miteinander ist die Basis unseres Zusammenlebens als Gesellschaft. Das erfordert Regeln im Umgang. Eine davon ist, dass man sein Gegenüber so behandelt, dass es sich nicht schlecht fühlen muss. Daher ist eine Grundidee von Höflichkeit, dass man sein Gegenüber (etwas) erhöht und sich selbst in eine eher untergeordnete Position bringt. Dazu gehören ganz einfache Dinge wie z.B. die Frage „darf ich Ihnen behilflich sein?“. Auch die vielbeschworenen Erwiderungen „Bitte“ und „Danke“ gehören zu diesem Konzept.
Der Einfluss der Medien und die Unfähigkeit mit ihnen sinnvoll umzugehen führt aber zusehends zu einer „Verrohung der Sitten“, zu einem wachsenden Verlust an Bedeutung dieses Konzeptes der Höflichkeit. Das erlebe ich an der Schule im Umgang mit den Eltern unserer Schülerschaft. In meiner Anfangszeit vor zwanzig Jahren hatte ich diesen Eindruck nicht. Das sind Veränderungen, die in den letzten zehn Jahren zugenommen haben müssen. Und wenn unsere Schülerschaft nicht mehr versteht, dass es eine enorme Unhöflichkeit ist, den Nachbarn anzuquatschen, wenn der gerade in einem Gespräch mit der Lehrkraft ist, und wenn dann die oder der Angequatschte sich auch noch von der Lehrkraft abwendet, um dem Anquatscher oder der Anquatscherin zu antworten, dann wird offensichtlich in den Elternhäusern die Grundlage für dieses Konzept des höflichen Umgangs immer weniger konsequent vermittelt.
Schon mal überlegt, warum man „höflich“ sagt? Hat das etwa mit den Gepflogenheiten im Umgang „bei Hofe“ zu tun? Kommt das von einer gesellschaftlichen Elite aus älteren Zeiten? Ist es deswegen veraltet und nicht mehr zeitgemäß?
- Menschlichkeit
Wenn ich mein Gegenüber als Mensch betrachte, und wenn ich mich selbst auch als Mensch betrachte, dann gibt es nur den einen logischen Schluss, nämlich dass mein Gegenüber in sehr vielen Aspekten mir sehr ähnlich sein muss. Mein Gegenüber empfindet das gleiche Spektrum an Emotionen und hat, was das gesellschaftliche Zusammenleben angeht, sehr ähnliche Bedürfnisse und Zwänge wie ich auch.
Wenn Menschen das Konzept der Höflichkeit aufgeben, kommen sie in die Gefahr auch aus dem Blick zu verlieren, dass das Gegenüber ebenso ein Mensch ist, wie sie selbst. Wenn man das Phänomen der Ereiferungskultur in den sozialen Medien beobachtet, dann geht es regelmäßig damit einher, dass das Gegenüber entmenschlicht wird, denn anders kann man den Verlust an Hemmungen nicht erklären, der das Mobbing, die Nazivorwürfe und die Morddrohungen ermöglicht.
Das ist übrigens der gleiche Mechanismus, den eine Kriegspropaganda nutzt, um das Töten anderer Menschen zu rechtfertigen. Nur dass eben die Entmenschlichung durch die Mittel der Propaganda gefördert wird, und nicht durch die selbstverstärkenden Mechanismen von sozialen Netzwerken.
Wir haben gesehen, welche Partei bei der Europawahl die zweitstärkste geworden ist. Deswegen lesen wir in den Printmedien auch von einem Rechtsruck in Deutschland. Damit müssen wir uns auseinandersetzen, wenn wir die Menschlichkeit erhalten wollen, damit die Spirale der Eskalation eben nicht weiter geht und keine Entmenschlichung stattfindet.
- Übergriffe
Wenn ich also schreibe „Heute schaffen wir das Sie ab, morgen das Recht auf freie Meinungsäußerung, übermorgen...“, dann sehe ich die Diskussion um das Siezen oder Duzen auch im Kontext des Konzeptes von Höflichkeit und der Wahrung des menschlichen Umgangs. Wir sprechen hier von einem Sprachgebrauch! Dieser Sprachgebrauch spiegelt auch unser Menschenbild. Das ist ja auch gerade der Ansatz derer, die gendergerechte Sprache fordern. Unser Menschenbild wird durch unseren Sprachgebrauch spürbar. Und hier zeigt sich, wie schnell Menschen übergriffig werden können, da diese Debatte leider in der Öffentlichkeit oft falsch geführt wird.
Durch den Einfluss der Medien und ihrer desolaten Qualität bei der journalistischen Arbeit passiert dann dieses: Ein Politiker erklärt im Beisein eines anderen, dass dessen Partei Nazi-Gesinnung habe. Was passiert in den Medien? Es kommen dort keine Auseinandersetzungen mit der Notwendigkeit, die Dinge ehrlich beim Namen zu nennen, damit unsere Gesellschaft den Blick auf die Menschlichkeit nicht verliert, sondern als Frage verkleidete verbale Pranger, die sein Vorgehen in ein zweifelhaftes Licht rücken sollen, damit die Auflage stimmt.
Medial haben wir inzwischen oft den Grenzfall, dass die eigene Meinung eben nicht mehr erlaubt ist, weil eine Vorverurteilung längst stattfindet. Dieses Verhalten ist übergriffig, weil es gegen unsere Gesetze verstößt (unschuldig, so lange nicht das Gegenteil bewiesen ist). Und immer weniger Menschen scheinen dabei ein Unrechtsempfinden zu haben, da sich kaum jemand die Mühe macht, nachzudenken. Wozu auch? Ich will geduzt werden! Dann kann ich mich wie ein Kind fühlen, das auch keine Verantwortung für sich selbst tragen muss!
Du darfst meine Sichtweise gerne als Mottenkiste und Griff ins Klo verurteilen. Es ist mir sogar lieber, wenn Du recht behalten solltest, als wenn an meinem Gefasel irgend etwas dran wäre.
Ich bleibe bei meiner Forderung nach dem Siezen im Wiki.
Liebe Grüße
Felix Riesterer