Wie können Menschen vom »Webstandards«-Konzept überzeugt werden?
Der Weblogger Jörg Petermann stellt allen Webkrauts die Frage Wie wollen wir als Webkrauts andere Menschen von Webstandards überzeugen …?
(Zum Hintergrund siehe den hiesigen Beitrag zu Webstandards und den Webkrauts.)
Eine Antwort ist meines Erachtens: Indem wir vernünftig, nüchtern, bescheiden und pragmatisch für modernes Webdesign argumentieren.
Wasserdichte Argumentationen, die Erfolg haben
Fakten sprechen für sich. In der Welt der Technik ist es recht einfach, harte Fakten vorzulegen, die verbesserte Wirtschaftlichkeit und Steigerung der Effektivität belegen. Der Wechsel auf »Webstandards« bedeutet ein verbessertes Erlebnis und verbesserten Komfort für die Seitenbesucher. Dies sollte sich an empirischen Untersuchungen belegen lassen.
Natürlich sind nicht alle Vorteile von modernem Webdesign in Zahlen ausdrückbar. Es geht vielmehr darum, dass die »Webstandards«-Bewegung keine quantifizierbaren Verbesserungen versprechen sollte, ohne konkrete Ergebnisse und Beispiele vorzuweisen. Es geht auch darum, hypothetische und tendenziell subjektive, bezweifelbare Vorteile als solche zu erkennen und sie lediglich als Nebenargumente aufzuführen.
An die Stelle von schwachen, nur teilweise pragmatischen Argumentationen könnte eine Form der Argumentation treten, wie sie die Klassiker Selfish Reasons for Accessible Web Authoring und Business Benefits of Accessible Web Design auf dem Gebiet der Barrierefreiheit verfolgen. Darin stecken zwar auch einige hypothetische und zum Teil leere Versprechungen - der erste Text ist immerhin von 1999. Sie sind nichtsdestoweniger Beispiele für diese pragmatische Haltung: Wie denken diejenigen, die ich überzeugen möchte und welche zunächst eigennützigen Gründe sprechen aus ihrer Sicht für modernes Webdesign?
Wo bleiben die Success Stories?
Wie sieht es denn tatsächlich bei großen deutschsprachigen Sites aus, die beim Redesign den »Webstandards«-Idealen gefolgt sind? Welche Argumente waren für sie ausschlaggebend? Und was hindert andere Verantwortliche konkret? Es gibt leider viel zu wenig Berichte, wie etwa das schon ältere Interview zum stern.de-Relaunch. Wo sind im fiktiven Werbeheft der »Webstandards«-Bewegung die Erfolgsstories und Referenzberichte von großen Sites? Ließe sich so etwas nicht für deutschsprachige Sites auf die Beine stellen?
Die Hypothese des verbesserten Suchmaschinen-Rangs
Ein Beispiel für ein noch nicht hinreichend untermauertes Argument möchte ich vorstellen: Es gibt verschiedene Listen, die die Vorteile von »Webstandards«-Design aufzählen, etwa Ten reasons to learn and use web standards und Why Use Web Standards?. In den meisten Fällen ist ein großes Argument die vermeintliche Verbesserung des Suchmaschinenranges: Well-written content delivered through clean, well-structured, and semantic markup is delicious food for search engine spiders and will help your rankings.
Ich will keine Gegenhypothese aufstellen, sondern lediglich fragen: Warum eigentlich genau, wie funktioniert das? Was wäre »unclean markup« und warum sollte eine Suchmaschine darauf allergisch reagieren? Niemand scheint dies empirisch untersucht zu haben, obwohl es sich doch mit harten Fakten belegen lassen sollte. Dazu schrieb ich kürzlich in einer Diskussion im SELFHTML-Forum:
Einige der populärsten Seiten des WWW pfeifen konsequent auf die Trennung von Layout und Information. Sie sind trotzdem vorzüglich in den Suchmaschinen vertreten …. Suchmaschinen tangiert die Trennung nur insofern, dass sie Elemente wie hX
und strong
auswerten. Davon abgesehen interessiert sie Tabellenlayout, font
und sonstige Layout-Information im Markup nicht. … Ich weiß, es gibt Spekulationen, dass Markup ohne Layoutinformationen den Suchmaschinen besser schmeckt. Das sind aber noch kühnere Spekulationen als die, dass Suchmaschinen plötzlich frohlocken, sobald sie ein hX
oder strong
sehen. … Daher denke ich nicht, dass man seinen Kunden versprechen kann, dass eine Webseite nach dem Relaunch plötzlich das Ranking merklich verbessert. … Belege deinen potenziellen Kunden mal die vollmundige Versprechung, dass die beschriebenen technischen Maßnahmen eine bessere Platzierung bei den modernen Suchmaschinen [begünstigen]
. Ich könnte das niemandem vertraglich zusichern. Ich denke, man sollte realistisch bleiben, was den Mehrwert der unter dem Schlagwort »Webstandards« subsummierten Methoden angeht, selbst beim Werben.
Rückwärtsgewandte Konzepte
In der internationalen Szene wird dem Phänomen der »Webstandards«-Unlust auf den großen Sites gerne damit begegnet, die Verantwortlichen freiheraus als fachlich unwissend darzustellen. Zwei Beispiele dafür sind die Diskussion über den Disney-Store-Redesign 2004 sowie die Diskussion um Professionalität und die »Neuen Amateure«:
Der Disney-Shop-Relauch
Im Oktober 2004 wurde der britische Disney-Store gemäß »Webstandards«-Idealen mit der Hilfe der Szene-Bekanntheit Andy Clarke redesignt und galt seitdem als Vorzeigebeispiel (Disney Store case study). Schade nur, dass im November 2005 wieder ein Relaunch anstand und man diesmal wieder zu grässlichen verschachtelten Layouttabellen, überladenem Code und Spacer-Gifs zurückgekehrt ist. Dieser Rückschritt ist sicher zu bedauern und zu kritisieren.
In die Geschichte ging Molly Holzschlags Open Letter to Disney Store UK ein. Er fängt nicht mit der Frage an, die sich alle stellten und niemand beantworten konnte: Warum dieser Rückschritt? Stattdessen stehen Urteile und hochemotionale Vorwürfen am Anfang: Your so-called redesign is a travesty, a tragedy, and an embarrassment.
Die Argumente, die sie im Folgenden aufführt, bleiben allgemeine Vermutungen, denn niemand kennt die Situation hinter den Kulissen. Your site will become significantly more difficult to manage.
Höchstwahrscheinlich, aber wie sieht es tatsächlich aus? The site may experience a drop in search rankings across all engines.
Nun, wie gesagt, wo ist die Empirie, die jedem Marketing-Menschen bei Disney das Fürchten lehren kann? Mit I say shame on you … Shame on you Disney
endet der Brief.
Auch Jens Grochtdreis berichtete über den Disney-Store-Relauch. Er gesteht zumindest zu, keine Erklärung zu haben, aber seine Spekulation ist wie gehabt: Die Marketing-Abteilung habe keinen blassen Schimmer von der Qualität unter der Oberfläche
und die Verantwortlichen hätten keine Ahnung von ihrer Arbeit
.
Selbst wenn das stimmt – es ist nicht mein Anliegen, über Spekulationen zu streiten –, so ist es dennoch kontraproduktiv, sich als Außenstehender die pauschale Erklärung zurechtzulegen, dass man es mit Ignoranten zu tun hat. Dies zeugt nur von eigenem Unverständnis gepaart mit einem Moralismus, der auf die Angesprochenen arrogant und abweisend wirkt.
Freilich sollte Disney klar davon in Kenntnis gesetzt werden, dass die Technik grob fehlerhaft ist und ihnen zum eigenen Nachteil gereicht. Die Selbstgerechtigkeit allerdings, die aus den Shame on you
-Sprüchen spricht, hat auf dem Feld des Kampfes um »Webstandards« nichts verloren.
Werbung für »Webstandards« sollte heißen, die Adressaten wie Kunden zu umwerben, sie für sich zu gewinnen. Die Botschaft sollte sein, dass die »Webstandards«-Aktivisten ihre Zusammenarbeit anbieten und bereit sind, mit jedem eine Diskussion darüber zu führen, wie Websites verbessert werden könnten. Diese grundlegende Haltung vermisse ich in Vorfällen wie diesem.
Was ändert es die Welt, wenn sich die gesamte »Webstandards«-Szene einmütig über den Rückschritt echauffiert? Der vermeintliche »öffentliche Druck« ist verschwindend gering. Ein solcher Brief erreicht extrem selektiv eine rein virtuelle Pseudo-Öffentlichkeit
(Indymedia). Molly rennt bei ihren Lesern offene Türen ein, den Adressaten des Briefes erreicht sie nicht. Eine Kommunikation mit Disney wurde nicht hergestellt (naja). Stattdessen stärkte der Rückschritt die Identität und Zusammengehörigkeit der »Webstandards«-Szene. Wird dadurch das Web besser?
Was bedeutet Professionalität?
Die Diskussion um die »Neuen Amateure« fing damit an, dass Andy Clarke in einem Interview sagte:
»Those people still delivering nested table layout, spacer gifs or ignoring accessibility can no longer call themselves web professionals.«
Die wichtigste Denkfigur ist wohl »es gibt keine Entschuldigung«:
»There are now so many web sites, blogs or publications devoted to helping people learn standards and accessible techniques that there are now no excuses not to work with semantic code or CSS.«
Das ist meiner Meinung nach ein gefährliches konservatives und anmaßendes Denken. Ein kleiner Realitätscheck zeigt, dass es tatsächlich eine etablierte Szene im Web gibt, die verständliche Dokumentationen, Tutorials und Anleitungen verfasst und in Foren, auf Mailing-Listen usw. Hilfestellung bietet. Es handelt sich um eine zwar wachsende, aber immer noch viel zu winzige Minderheit.
Wird man nicht stutzig, wenn man sieht, dass die breite Masse noch längst nicht erreicht wurde? Kann man angesichts dessen behaupten, dass die gegenwärtige Infrastruktur bereits ausreichend ist? »Es gibt keine Entschuldigung« suggeriert, dass von Seiten der Aktivisten alles mögliche getan worden sei. Die »Schuld« dafür, dass die »Webstandards« noch nicht die erwünschte Popularität haben, wird denen zugeschrieben, die die Aktivisten überzeugen sollten. Das kann keine Basis des Einsatzes für modernes Webdesign sein.
Welchen Wert haben solche Definitionen der Professionalität, was ändern sie an der gegenwärtigen Situation? Es ist kontraproduktiv, wenn sich eine marginale Szene als Elite darstellt und für sich das Etikett »professionell« beansprucht. Auch in diesem Fall wird Abgrenzung geschaffen anstatt Zusammenarbeit. Einen Verzicht auf defizitäre Technik bringt die Debatte nicht.
Molly Holzschlag entwickelt Andy Clarkes Aussage glücklicherweise zu einem Aufruf der Kooperativität fort: We also have each other. … [There] simply is no excuse to not reach out and help each other understand the difficulties, nuances, and challenges of our craft.
Unter Professionalität versteht sie nicht die Selbstüberhöhung, sondern: I believe that this new professionalism means taking responsibility for the education of ourselves and each other, and ensuring that reversions like Disney Store UK never happen again.
Auch diese kritischen Kommentare bestätigen die Einwände:
Maybe they can no longer call themselves web professionals, but they are the big majority. … I think we are just the first (small) wave, but the tide is far far behind. I also think that calling the entire mass non-professionals is a little harsh, a little early.
(Raanan Avidor)
[Many] of the so-called ›evangelists‹ out there believe that, by casting a negative light upon people who choose not to conform for whatever reason, those people will somehow ›see the light‹ …. But most won’t. … We need to give people valid reasons to switch, and make them both clear and positive in tone.
Auf den Punkt bringt es: The problem with being an evangelist is that evangelists preach to the converted and loyal, while giving less guidance to, and often ignoring, the unconverted. This should be the other way around.
(Adam)
I believe in standards, I don’t believe, however, that belittling others’ coding style will achieve anything productive. In fact, it will most likely create contempt between the two parties (standard and non standard). … [There] are a myriad of factors that could still result in the creation of a table based site that are beyond the control of the designer …. These are just the tip of the iceberg, and simply shrugging these off and labeling those designers who are frequently impeded by these problems (technical or political) as ›unprofessional‹ is not only narrowminded, but also shortsighted as well. … [The] problem must be targeted at its source (education), and not at the results of the source (poor designers), so flaming away at those unaware of CSS is counterproductive and a waste of time and energy at best
(ialmnrt)
Während die Debatte über die Professionalität ziemlich schwierig anfing, lieferte zumindest die kritische Diskussion Aussichten darauf, was Professionalität berechtigterweise bedeuten könnte – Education! education! education!
sagte jemand passenderweise.
Auch Peter-Paul Koch lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage: How do we reach web developers already working in the industry but blissfully unaware of modern web development?
Dabei scheint es mir entscheidend, dass er nüchtern feststellt: The current structure of the standards-aware web development world is not suited to reach them
. Damit hat er die ursprüngliche, rückwärts gewandte These »es gibt keine Entschuldigung« umgewendet. Although our standards-aware ecosystem has played an enormously important role in defining good practices, solving technical problems, and shaping a new theory of web development, it isn't designed to handle this new challenge. It doesn't reach the target audience.
Wie könnte das Jahr 2006 aussehen?
Die obigen Beispiele illustrieren, welche Methoden sich nicht dazu eignen, Menschen von modernem Webdesign zu überzeugen. Zumindest die Debatte um die Professionalität bekam eine Wendung und es offenbarten sich Erfolg versprechende Methoden.
Jörg Petermann fragt auch nach Erwartungen und Wünschen an das Webdesign-Jahr 2006. Meiner Meinung nach könnte das Jahr 2006 ein Jahr werden, in dem sich die Szene öffnet und sich weniger mit sich selbst beschäftigt.
Die Gründung der Webkrauts im letzten Jahr war bereits ein Schritt in die richtige Richtung, wurde aber leider durch Ereignisse wie die obigen überschattet. Das Jahr 2006 könnte ein Jahr der Fragen und Antworten sein, nicht der schon längst vorgefertigten Antworten, ein Jahr des kooperativen Dialoges mit denjenigen, die es zu überzeugen gilt.
Jörg führte verschiedene Interviews zum Jahresstart durch - bezeichnenderweise mit Persönlichkeiten der deutschsprachigen Szene (wo bleiben die Interviews mit den Unconverted
?). Ohne die anderen Interviews pauschal abwerten zu wollen, erfrischte mich lediglich Alp Uçkans trockene, aber einsichtige Antwort:
Jörg: Webstandards sind Dir ein besonderes Anliegen. Was meinst Du, welche Fortschritte werden wir in 2006 bei den Webstandards erleben können?
Alp: Wir werden uns weiterhin gegenseitig auf die Schultern klopfen, weil wir Webstandards beachten.
Postscriptum
Meine Fragen nach empirischen Untersuchungen, nach Success Stories usw. sind nicht rein rhetorisch zu verstehen. Ich wäre erfreut, wenn jemand entsprechende Links nennen könnte. Ich habe lediglich auf den üblichen Seiten, auf denen die Argumente genannt werden, keine empirischen Belege gefunden.
Und mir ist klar, dass die schlimmste Form von Selbstreferenz ist, sich über eben diese zu beklagen. ;-)
Vielen Dank an Jeena Paradies für verschiedene Anregungen, die in diesem Beitrag aufgegriffen werden.