Vorweg: Der Spiegel hat mal wieder die Welt in Schubladen geordnet: Das liest sich nett, vereinfacht die Wahrnehmung der Welt auf etwas irgendwie Verständliches, führt aber - wie häufig beim Spiegel - zu dummerhafter Symbolik.
Der Fehler liegt schon im Grundannahme: Gesellschaft und Individuum ist eben kein Gegensatz, Schon der Versuch, vermeintlichen Individuen in Untergruppen zu pressen (Generation der 68er, die Senioren etc.) belegt den Unfug: Tatsache und Postulat mischen sich fröhlich. Zunächst wird behauptet, daß dem "Ich" ein höherer Wert beigemessen als dem "Wir"- und dann gibt es kollektive Haue für alle, die darauf reingefallen sind.
Unsere Gesellschaft - bzw. das, was wir unter diesem Begriff verstehen - befindet sich seit einiger Zeit (100, 150 Jahre) in einem prägenden Prozeß des Wandelns: Zug, Auto und Flugzeug, Telefon, Rundfunk, Fernsehen und seit neulich auch das Internet haben Entfernungen schrumpfen lassen. Wir verdichten in einem Netzwerk. Und es scheint so, dass die Wahrnehmung der Individuen etwas hinter dem sozialen Prozeß hinterher hinkt. Sie fühlen sich allein: wir müssen erst (wieder) lernen, in sozialen Prozessen zu denken. Norbert ELIAS nennt das einen „massiven globalen Integrationsprozeß", der mit einer normalen Gegenreaktion, nämlich „untergeordneten Desintegrationsschüben", Hand in Hand geht. Mit dieser neuen, ungewohnten Nähe müssen wir Menschen eben erst mal umzugehen lernen.
Das hat aber nicht mit Gegensätzen zu tun. Die menschliche Gesellschaft ist nichts anders als die Gesamtheit der Individuen. Sie muß in dem laufenden Integrationsprozeß lernen, dass kommunizierende, interaktive Gesellschaften eben einhergehen mit einer größeren Chance der Individualisierung. Oder anders herum: Es ist eben die - „gute" wie „schlechte" - Vielfalt, die die die Gesellschaft miteinander verbindet.
Wer bis jetzt nicht eingeschlafen ist: Norbert Elias, Die Gesellschaft der Individuen, ISBN 3-518-28574-2
Jetzt zu deinen Fragen.
1)Welcher Zahnarzt kann sich selbst die Zähne ziehen!? Wenn ich es recht überblicke, hat es nicht einmal Siegmund Freund geschafft, sich selbst zu analysieren.
2) Nein, denn der Spiegel-Autor verwechselt die Medien mit ihrem (hoffentlich!?) Inhalt: Informationen. Ich glaube, es war Neil POSTMAN der gesagt hat, daß wir in einem scheinbaren Paradoxum leben: Während wir Gefahr laufen, in einem Meer an Informationen zu ertrinken, verdursten wir zugleich auf der Suche nach Wissen. Der Entwicklungsschub, in dem wir uns wohl befinden, hat ja gewisse Vorläufer: Ich glaube, daß die Erfindung des Buchdrucks (=Internet) erst durch die Schulpflicht (flat-rate) zu einer durchdringenden Veränderung der Gesellschaft geführt hat.
Dein Ruf nach Toleranz ist aber immanent: In einer Gesellschaft, in der die einzelne Handlung zunehmend mehr andere Individuen beeinflußt oder gar bedrängt, ist es zwingend, die Freiheit des anderen zu respektieren, sonst verliert man die eigene Freiheit.