Hi Meg,
so, hier folgt die Begründung meiner Ansicht. Statistiken, Belege und Dokumentation zu exakt diesem Thema liegen mir nicht vor, aber sei's drum:
Das Mail/Posting wurde in der Hoffnung verschickt, jemand sieht das Mädchen und erkennt sie. Dazu wäre folgendes notwendig: Sollte der Zufall eintreten, dass jemand, der das Mail bekommen hat, dem Mädchen begegnet, müsste das Bild erinnert werden und/oder die Personenbeschreibung. Das ist die erste Hürde - oder weißt Du jetzt so aus dem Stegreif noch die Beschreibung, hast die Bilder vor dem inneren Auge? Wenn ja, hat Du entweder ein sehr gutes Gedächtnis oder Dir die Sachen sehr gut eingeprägt.
Die zweite Hürde: es ist sehr schwer, Menschen, die man nicht kennt, anhand eines Fotos wiederzuerkennen. Ein kleines Beispiel: als die Fotos aufgenommen wurden, war das Mädchen fröhlich. Möglicherweise ist sie aber, wenn Du ihr begegnest, gerade traurig.
Dritte Hürde: um sie erkennen zu können, müsstest Du aufmerksam jedes Kind, das Du triffst, anschauen, ob es nicht vielleicht das gesuchte Mädchen ist. Wie lange hält das jemand durch? Einen Tag? Zwei Tage? Schon eine Woche kann ich mir bei auch bei sehr engagierten Menschen nicht vorstellen.
Vierte Hürde: die Verteilung des Mails streut extrem stark. Polizeiliche Fahndungsbilder werden z.B. üblicherweise nur am vermuteten Aufenthaltsort des/der Gesuchten verteilt, und das aus mehreren guten Gründen. Es bedarf eines besonderen Anreizes für die Leute, besonders aufmerkam nach einer Person zu schauen - z.B. eben, dass die gesuchte Person sich im selben Umfeld bewegt wie die Leute, die suchen sollen. In diesem Fall verschwand das Mädchen glaube ich in Esslingen, ich sitze in Berlin - sehr sehr unwahrscheinlich also, das ich sie sehe. Das führt zur
Fünften Hürde: Suchaktionen erfordern Aufmerksamkeit, und die kann man nur in begrenztem Maß von den Leuten einfordern. Wenn solche Suchmailings sich einbürgern sollten, könnte es sein, dass wir alle bald pro Woche zwei, drei oder mehr verzweifelte Suchmails erhalten. Bei den ersten sind wir noch aufmerksam, aber schon bald sehen wir höchstens noch halbherzig hin. Und schlimmer: wenn wir irgendwann richtig damit überflutet werden, sind wir auch nicht mehr zu Suchaktionen zu bewegen, die Sinn machen, bei denen also vermutet wird, dass die gesuchte Person sich in unserem Umfeld befindet.
In diesem Sinne würde ich gar sagen: dieses Mail ist - als Präzendenzfall - potenziell gefährlich, weil es eine Lawine lostreten könnte, die letztlich dazu führt, dass die Leute dann, wenn sie wirklich helfen könnten, nicht mehr aufmerksam genug sind.
Jetzt zu den positiven Fällen, also: wie werden Kinder gefunden? Du hast selbst schon das beste Beispiel gegeben dafür: indem ungewöhnliche Verhaltensweisen von Kindern auffallen. Ein viel banaleres Beispiel als das von Dir geschilderte:
Du siehst ein Kind auf der Straße, das verloren und traurig wirkt. Sprichst es vielleicht an, was mit ihm los ist, und erfährst, dass es möglicherweise weggelaufen ist oder sich verirrt hat. Und gehst mit ihm zur nächsten Polizeistelle, die natürlich die Vermisstenliste hat und das Kind nach Hause bringen kann. Und das ist es, was wir alle tun müssen: wenn uns ungewöhnliche Verhaltensweisen bei Kindern auffallen - nicht wegsehen, sondern nachfragen.
Aber auch hier möchte ich ein Warnung anbringen: Vor etwa sieben Jahren war das Thema Kindesmissbrauch groß in der Diskussion. Hinter jeder klitzkleinen Ungewöhnlichkeit wurde damals Kindesmissbrauch vermutet. Mich sprachen damals viele ErzieherInnen bzw. LehrerInnen an, ob dieses oder jenes Verhalten denn auf Míssbrauch deuten würde. Darunter war z.B. die Verwendung ungewöhnlicher Farbkombinationen beim Malen von Bildern. Deswegen meine ich: lieber einmal zu viel als einmal zu wenig nachgefragt - aber nie darauf bestehen, dass etwas nicht stimmt, wenn das Kind meint, es sei alles ok. Manchmal sind auch Kinder einfach nur schlecht drauf.
Vielleicht sollte ich zum Schluss noch ein paar Worte zu meiner Person verlieren: ich bin Psychologe (wenn auch nicht in dem Beruf tätig), habe sechs Jahre in der freien Jugendhilfe gearbeitet und bin zur Zeit Bundesvorsitzender eines - allerdings sehr kleinen - Jugendverbandes. Ich bin kinderlos, wenn man mal davon absieht, dass meine Freundin eine Tochter hat.
Grüße,
Utz