Hi Mathias,
Aber mal im Ernst: Die Aussage von Richard ist sicherlich sehr pauschal, aber sie birgt einen wahren Kern, wie ich finde. Wie denkst du darüber? Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass du für die schlechten PISA-Ergebnisse nur die Schüler verantwortlich machst ...
Es ist nicht so leicht wie Du denkst, einen Schuldigen auszumachen.
woher willst du wissen, was ich denke? ;-)
Mir ist klar, dass ich einen Fehler gemacht habe, indem ich davon ausgegangen bin, du würdest meine Aussage selbstverständlich genau so verstehen, wie ich sie gemeint habe. Das klappt bei "Read-Only-Communication" mMn aber nur, wenn Sender und Empfänger sich sehr gut kennen. Ich versuche es noch einmal:
"Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass die schlechten PISA-Ergebnisse _nur_ dadurch zustande gekommen sind, dass es nur noch dumme Schüler gibt. Dabei beschreibt "dumm" eine Eigenschaft (wie z.B. Haarfarbe), die nicht durch bessere Ausbildung zu beheben ist."
Außerdem hätte ich wohl besser dazuschreiben sollen, dass mir durchaus bewusst ist, dass an unserer derzeitigen Situation im Bildungswesen nicht nur Lehrer und Schüler beteiligt sind, sondern auch Eltern, sonstiges Umfeld der Kinder, Bildungspolitik, religiöse Einflüsse verschiedenster Art usw. Einen "Schuldigen", den man dann (vor-)schnell verurteilen kann, wollte ich damit weder suchen noch identifizieren. Denn das ist, da hast du vollkommen recht, eine sehr komplexe Aufgabe, zumal man exakt _einen_ Schuldigen sowieso nicht finden wird.
Unsere Gesellschaft klafft immer weiter auseinander und diese Schere öffnet sich zusehends, lange vor dem ersten Schultag.
Und genau da müssen wir ansetzen. Frag mich bitte nicht wie, ich habe da leider auch kein Patentrezept, ganz im Gegenteil sehe ich derzeit die Chancen auf eine gut funktionierende und zukunftsfähige Gesellschaft immer mehr schwinden. (Es sei denn, man bezeichnet eine Gesellschaft als zukunftsfähig, die aus einer winzigen, reichen und gut ausgebildeten Elite und einem riesengroßen Mob von armen Ungebildeten besteht.) Ich vermute sogar, dass der Staat an dieser Entwicklung gar nicht so viel ändern kann -- zumindest weiß ich nicht, wie er das bewerkstelligen sollte.
Ich glaube, dass viele Menschen einfach keine Verantwortung übernehmen bzw. sich ihrer Verantwortung nicht bewusst sind. Und damit meine ich jetzt nicht die vielgescholtenen Manager, sondern Menschen quer durch unsere Gesellschaft. So sind sich mMn viele Eltern nicht bewusst, welch ungeheure Verantwortung sie sich aufgeladen haben, indem sie Kinder in die Welt gesetzt haben. Nur mit füttern, waschen, anziehen ist es da nicht getan, nein, da gehört noch viel mehr dazu, insbesondere, den Kindern Vorbild zu sein und ihnen eine lebenswerte Zukunft und einen guten Start in selbige zu ermöglichen. Die Menschen, die dazu nicht in der Lage sind, sollten sich das mit dem Kinderkriegen besser noch einmal überlegen. Und den Familien, in denen -- durch welche Umstände auch immer -- die Eltern nicht mehr die Möglichkeit haben, in ausreichendem Maße für ihre Kinder dazusein, sollte das gesellschaftliche Umfeld helfen. Nein, auch dafür habe ich kein Patentrezept, und mancher wird jetzt vielleicht sagen, dass ich da "utopischen Blödsinn" von mir gebe. Andere werden mich für überheblich halten, dass ich mir anmaße, zu bestimmen, wie Eltern mit ihren Kindern umzugehen oder sie zu erziehen haben. Aber ich halte das menschliche Leben für ein so hohes Gut, dass das Zeugen von Nachkommen nicht zur reinen Reproduktion bzw. Arterhaltung verkommen darf.
Welche Rechtfertigung ist nötig für eine grobe politische Orientierung in der Demokratie, geographisches Grundwissen und Prozentrechnung?
Es gibt in meinem Leben durchaus Situationen, in denen man das gebrauchen kann....
Ja, in _deinem_ Leben, im Leben der "krass, Alder"-Generation auch?
Interessante Frage. Simple Antwort: Wenn sie erfolgreich an einem Einstellungsgespräch teilnehmen wollen, wäre das vielleicht eine Idee, oder? Wenn Sie mitbestimmen wollen in Betrieben oder Parteien, wär's vielleicht nicht schlecht. Und: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil.
Diese Frage war leicht ironisch gemeint. Im Laufe der Zeit wirst du feststellen, dass ich gerne provokante Fragen stelle, um mein Gegenüber ein wenig zu "locken". Ich habe bemerkt, dass man durch Fragen in so mancher Diskussion viel weiter kommt, als mit reinen Aussagen (man darf's natürlich nicht übertreiben). Um es aber mal auf die Spitze zu treiben: Brauche ich in einem Einstellungsgespräch Prozentrechnung? Bringt mir bei der Mitbestimmung im Betrieb das geographische Grundwissen etwas? (Halt, noch nicht antworten, erst weiterlesen!)
Aber mal Spaß beiseite, prinzipiell stimme ich dir da zu. Wobei die Lehrinhalte z.T. vielleicht doch etwas praxisrelevanter sein dürften. Ich fand z.B. im Deutschunterricht Grammatik absolut unnütz,
Ich habe gerade einige Klassenarbeiten korrigiert, unter anderem in Bildungsgängen mit kaufmännischer Ausrichtung. Was meinst Du, welche Chancen die no-grammar-Fraktion bei einem Einstellungstest hat? Wer würde auf die Idee kommen, so simple Sprachen wie PHP lernen zu wollen, ohne sich mit Befehlen und Syntaxregeln beschäftigen zu müssen. Aber Deutsch, na klar, das machen wir aus dem Bauch *g*
Ich schon ;-)
Natürlich gibt es Leute, die das aus dem Bauch können, nämlich die, die von früher Kindheit an mit Büchern konfrontiert werden und in einer Umgebung aufwachsen, in der korrekt Deutsch gesprochen wird.
Und schon sind wir wieder bei der Verantwortung der Eltern. Wie Vera F. Birkenbihl so schön sagt (sinngemäß zitiert): "Wie kann man von einem Kind verlangen, dass es gerne liest und schreibt, wenn zuhause alles, was gelesen wird, die Fernsehzeitung und alles, was geschrieben wird, der Einkaufszettel ist?" Und ich bleibe dabei, dass der richtige Umgang mit der Sprache nicht durch Auswendiglernen von Grammatikregeln erlernt werden kann. So etwas lernt man nur durch "handeln"; wenn der Unterricht das berücksichtigt, ist selbstverständlich nichts dagegen einzuwenden. Zu "meiner Zeit" war das jedenfalls nicht so.
Inzwischen dürfte das eine Minderheit von grob geschätzt 30% sein.
_Das_ finde ich traurig und _sehr_ bedenklich.
Auch hilft es ungemein, zu wissen, warum man etwas lernt.
Natürlich hast Du Recht.
Immer. ;-)
Es gibt aber ein seltsames Geheimnis der Bildung, das viele nicht verstehen: Das größte Privileg der Eliten ist es, während ihrer Schulzeit völlig praxisirrelevante Dinge lernen zu dürfen.
So sie denn wirklich praxisirrelevant sind. Definiere "praxisrelevant". Dann definiere ich, dann Schröder, dann Stoiber, dann Schrempp, dann Sommer. Wie viele verschiedene Definitionen mit teilweise sogar widersprechenden Aussagen dabei wohl herauskommen? Ich schätze mal, mindestens sechs.
Platos Höhlengleichnis
öffnet mir den Geist für "Andersdenkende", führt mir meine eigene "Beschränktheit" vor Augen und macht mich nachdenklich bez. meiner Meinungen und Ansichten.
Lateinisch
lehrt mich Strukturen und Logik.
höhere Mathematik
hat viel mit logischem Denken und vor allem mit Abstrahieren zu tun.
eine Theater-AG,
fördert die persönliche (sprachliche und körperliche) Ausdrucksweise kennenzulernen und auszuprobieren - und macht Spaß. Außerdem wird das gemeinsame Arbeiten in der Gruppe gefördert.
ein Musikinstrument
spielen fördert die Intelligenz, fordert das Durchhaltevermögen und bringt Erfolgserlebnisse, die quasi spielerisch entstehen. Es fördert die Hand-Auge-Ohr-Koordination.
wie man in einer Band oder in einem Orchester spielt
zeigt einem, dass man sich dem Großen Ganzen unterordnen muss, um das gemeinsame Ziel zu erreichen.
die Geschichte der russischen Literatur im 19. Jahrhundert
zeigt einem, so sie denn nicht herausgerissen aus sämtlichen Zusammenhängen betrachtet wird, die Abhängigkeiten zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und der Literatur, wodurch ein umfassenderes Verständnis möglich wird. Kritikfähigkeit bezüglich aktueller Geschehnisse wird erst durch Kenntnisse vergangener Geschehnisse möglich.
irgendwelche abgedrehten Gedichte von Benn und Celan.
Die Auseinandersetzung mit etwas mir völlig Fremdem lehrt mich, nicht vorschnell zu urteilen und die Feinheiten und vielleicht sogar verborgenen Schönheiten am Andersartigen zu entdecken.
"Hohles Lebensgehöft. Im Windfang
die leer-
geblasene Lunge
blüht. Eine Handvoll
Schlafkorn
weht aus dem wahr-
gestammelten Mund
hinaus zu den Schnee-
gesprächen."
(Paul Celan)
Was ist denn daran praxisirrelevant? *g*
... bei uns herrscht die Meinung, der perfekte Deutschunterricht wäre so eine Art höherer Schulung für Verkaufsgespräche,
Dann bin ich keiner der zur herrschenden Klasse gehört. Der perfekte Deutschunterricht befähigt die Schüler zu einem kritischen und bewussten Umgang mit der eigenen Sprache und zu einer vielfältigen Ausdrucksweise. Die Verkaufsgespräche sind mit _diesen_ Kenntnissen und vor allem Fertigkeiten ein Klacks.
der perfekte Matheunterricht müsse sich sofort auf Anwendungen stürzen.
Wenn damit gemeint ist, dass die Schüler das Wissen nicht nur theoretisch lernen, sondern auch anwenden, indem sie es einfach ausprobieren und vielleicht sogar bestimmte Kenntnisse erst durch die "herumprobierende Anwendung" erlangen, dann stimme ich dem sogar zu. Nicht zustimmen würde ich, wenn jeder Schüler nur das lernen sollte, was er mit hunderprozentiger Wahrscheinlichkeit (die ja wiederum eine Gewissheit ist, die es nicht geben kann) im späteren Leben benötigt. Wenn ihm also vorherbestimmt ist, dass er Schuhputzer wird, braucht er keine Differentialrechnung zu lernen - nein, das meine ich nicht mit praxisrelevantem Unterricht.
Es gilt jedoch auch für den Mathematikunterricht, was du selbst sagst:
"Meiner bescheidenen Erfahrung nach lernt man am besten bei konkreten Projekten."
Die Frage ist demnach nur noch, wie diese Projekte auszusehen haben. Das wird nicht einfach sein, aber es lohnt sich nicht nur, sondern ist mMn sogar notwendig.
Wir sind eben auf dem Wege vom Volk der Dichter und Denker zu einer demokratischen Gemeinde sympathischer Dussel, die mangels eigener Hirnmasse jedem Mainstream hinterhereiern müssen...
Was können wir dagegen tun? Dussel ohne eigene Hirnmasse sind _mir_ nicht sympathisch ...
Eine Frage habe ich an dich als Lehrer noch: Haben die Jugendlichen heutzutage tatsächlich ein derart rudimentäres Sprachvermögen, wie sie es in ihren Dialogen in der Öffentlichkeit (im Bus etc.) offenbaren? _Das_ wäre in der Tat haarsträubend.
Schönen Sonntag noch!
O'Brien
PS: Als aufmerksamer Leser hast du selbstredend bemerkt, dass ich bei deiner Aufzählung der "praxisirrelevanten" Lehrinhalte etwas ausgelassen habe; mir fiel keine passende Entgegnung ein :-)
--
Frank und Buster: "Heya, wir sind hier um zu helfen!"