Hi Ludger,
ich fand den Link interessant, obwohl ich grundsätzlich skeptisch bin, was die ethische Argumentation angeht: Fraglich ist es aus meiner Sicht, ob überhaupt noch ein Standpunkt (re-)konstruierbar ist, der über den Perspektiven der Interessengruppen steht. Es scheint mir ein Zeichen der Zeit zu sein, dass sich die Ideologien in nicht mehr versöhnbare Einzelperspektiven aufzulösen scheinen.
Die "angemessene Debatte"
Der von Dir zitierte Autor hofft einen solchen Standpunkt diskursiv zu gewinnen, also durch eine "angemessene" Debatte über "Gerechtigkeit", wahrscheinlich im Habermaschen Sinne, dass Totalität nicht mehr spekulativ zu gewinnen sei, sondern nur in Form diskursiver Einigung in demokratisch organisierten Gesprächen.
Dominanz der Interessen
Ein Problem ist dabei, dass die aktuelle Debatte von der Interessenseite fast vollständig dominiert wird, und nicht mit dem Ziel eines "gerechten" Interessenausgleichs geführt wird. Der Autor nennt zudem den Perspektivenwechsel der am Diskurs beteiligten zu einseitiger Interessenvertretung:
" Was steht mir zu, wie können die anderen mir gerecht werden?"
veränderte Voraussetzungen
Diese Perspektive stellt der Autor in Frage aufgrund der Veränderung der Voraussetzungen des Diskurses: Ein Beharren auf Interessenstandpunkten ließe sich nur dann erfolgreich als Muster einsetzen, wenn es durch Wachstum ein ständiges Mehr an zu verteilenden Gütern gebe. Als Rahmen bezieht er sich dabei auf die Globalisierung.
verstaatlichte Ethik
Ein weiteres Argument kritisiert speziell die Debatte in der Bundesrepublik, die die Ethik vollständig an den Staat und das Sozialsystem delegiert habe. Das mit dem frei flottierenden Moralkapital halte ich einfach für Unsinn, weil der Kapitalbegriff hier nicht trifft.
Interessante Fragen ergeben sich aus dem Artikel dennoch:
1. Gibt es noch eine Perspektive, die aufbrechenden Interessengegensätze in demokratischen Debatten mit dem Ziel der Gerechtigkeit auszugleichen?
2. Gibt es überhaupt die Bereitschaft, bei solchen Debatten die Interessen des anderen mitzudenken, anstatt ihn zu diffamieren, wie es zur Zeit mit Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen geschieht, mit dem Ziel sie deklassieren zu können, ohne dafür den politischen Preis erheblicher Stimmenverluste hinnehmen zu müssen?
3. Brauchen wir eine neue politische Kraft, die die Interessen der Opfer der Globalisierung wirklich vertritt?
4. Wie könnten Modelle aussehen, die tendenzielle Verschlechterung der Lebensbedingungen für Arbeitslose und Lohnabhängige durch die Globalisierung zu mildern.
5. Wie müssten wirtschaftspolitische Schritte aussehen, die nach mehr als 20 Jahren leerer Versprechungen und gescheiterter Ansätze wirklich die Arbeitslosigkeit reduzieren?
Ganz persönlich: Ich halte die heutige Debatte für extrem verlogen. Der Behauptung, dass durch Mehrarbeit Arbeitsplätze geschaffen würden, die den entstehenden Verlust an Bedarf nach Arbeitskräften mehr als ausgleichen würden, halte ich nicht nur für unwahrscheinlich, sondern auch für unwahrhaftig. Der Wunsch nach Gerechtigkeit bestimmt die Debatten nicht eine Sekunde lang, das sind nur Sonntagsreden. Die Zerstörung des bundesdeutschen Binnenmarktes ist aus meiner Sicht eine politische und unternehmerische Dummheit. Der Glaube, dass die Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosen nur ausreichend drangsaliert werden müssten, wie ihn unter anderem der Sozialdemokrat Clement mit Verve vertritt, ist reines Wunschdenken. Ein großer Teil der Sozialhilfeabhängigen sind Kinder und alleinerziehende Mütter, hinzu kommen etwa Rentner und Arbeitslose, vor allem aus Ostdeutschland, die trotz vorheriger Berufstätigkeit so schlecht gestellt sind, dass die Arbeitslosenhilfe oder die Rente nicht zum Lebensunterhalt reichen.
Natürlich gibt es gute Gründe, nicht jede Form der Faulheit zu unterstützen, aber die Rücksichtslosigkeit und soziale Kälte gegenüber Menschen rechtfertigt das noch lange nicht.
Obwohl das Interview relativ lang ist, könnte ich trotz genauer Lektüre nicht sagen, welche Position der Autor zu diesen Fragen vertritt.
Interessieren würde mich natürlich auch, was Du davon hältst!
Viele Grüße
Mathias Bigge