Tim Tepaße: Mein Problem mit Webstandards-Evangelisierung

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Hallo Dirk,

Was genau hält dich übrigens davon ab, positiv (statt eher gleichgültig und abwartend) an die Sache ranzugehen und bei dem Projekt mitzumachen?

Ich fühl mich einfach mal auch angesprochen, weil ich vorhin ja ähnlich wie Mathias darauf reagiert habe. Für mich sind es zwei Gründe, der erste ist leicht verständlich, für den anderen muss ich weit, bis fast hin zur Threaddrift abschweifen:

Das Zeit- und Energieproblem. Zum einen fordert das real life, zum anderen fühle ich mich SELFHTML mehr verpflichtet als einer Initiative, d.h. Werbung für Webstandards geschieht hier auch, wie schon seit Jaaahren, als ich früher einer der nervigeren Apologeten war. Und auch SELFHTML 9, an dem ich durchaus mitarbeiten will, soll mehr auf Standards ausgerichtet werden.

Zum anderen stehe ich derzeit mit den „Webstandards“, genauer gesagt mit dem W3C, auf einem etwas kritischeren Fuss. Wenn die Webkrauts ungefähr so sind, wie das originale Web Standards Projekt oder seine Untergruppen, dann läuft das in etwa darauf hinaus, lediglich „Wir haben tolle Standards durch das W3C, schon seit Jahren, man hat nur Vorteile dadurch, benutzt sie endlich“ zu sagen, eventuell mit deutscher BITV-Prägung. Das ist toll, das hab ich die letzten fünf Jahre auch gemacht. Im Web und dann hier.

Aaaber: Je mehr ich in das Thema eintauche, desto mehr Ungereimtheiten tauchen auf. Das ist dann doofe Detailfitzelei, bei denen man sich durch haufenweise, manchmal ziemlich dröge Dokumente kramen muss, um eine Frage zu beantworten, welche Zeichenkodierung ein Browser annehmen soll, wenn er ein XHTML 1.0 Strict Dokument mit dem MIME-Typ application/xml+xhtml aber ohne Angabe des Zeichensatzes bekommt. Haufenweise Standards, die sich einander widersprechen, von RFCs zu MIME über HTTP zu den Recommendation von HTML 4, XML 1.0, XHTML 1.0 und einer „Notiz“ der Markup Working Group des W3C. „Webstandards“ sind da nicht unbedingt der heilige Gral, in den letzten Jahren habe ich mich durchaus öfters gewundert, dass das Web überhaupt funktioniert.

Dazu kommt, dass einiges an Kleber, der das Web zusammenhält, nicht wirklich standardisiert im Sinne von in einer internationalen Organisation oder in einem Konsortium erarbeitet und beschrieben ist. Insbesondere im Fall Javascript ist das so, das, was die DOM-Standards des W3C und der Standard Ecmascript beschreiben, ist wirklich nur minimal. Vieles, was das große Themengebiet Javascript ausmacht, stammt im wesentlichen von den Veteranen der Vierer-Browserkriege, Netscape als Erfinder von Javascript und dem Internet Explorer, jeder, der heutzutage einen Browser programmieren wollte, tut gut daran, das ererbte Verhalten und die ererbten Möglichkeiten älterer Browser mit einzubauen, obwohl nicht „standardisiert“, weil man nur mit DOM und Ecmascript nicht so unbedingt weit kommt. So machen das ja auch die großen Fünf. Es ist ja schon bezeichnend, dass die Dom Scripting Task Force des Webstandards Project den Grund für ihre Existenz aus dem derzeitigen AJAX-Hype zieht und das auch propagiert, obwohl es da eigentlich nur um XmlHttpRequest geht, etwas, das von Microsoft für Microsoft erfunden wurde und woanders als praktisch befunden und auch eingebaut wurde. Schon alleine, weil die Standard-Konkurrenz, DOM 3 Load & Save recht kompliziert bis eklig zu benutzen ist, weil da ein paar Architekturastronauten am Werke waren, die abstrahiert haben, wo sie es nur können. Kann man da noch von Webstandards reden?

Das führt mich zum nächsten Punkt. Das Wolkenkuckuckskonsortium. Zum einen verliert es sich tief in die Idee des Sematic Webs und produziert da einen komplizierten Standard (die ganze RDF/OWL-Chose) nach dem nächsten, ohne dass man irgendeine Anwendung in der Praxis sieht, einfach, weil es zu komplex ist. Man bricht die Rückwärtskompabilität bei der Weiterentwicklung  älterer Standards (XHTML 2), weil man tolle neue Technologien (XForms) mit reinbringen muss, die zufälligerweise ganz anders sind als ihre Entsprechungen in HTML 4 und XHTML 1, sprich ein valides XHTML 1 Dokument mit einem input-Element wird kein ein valides XHTML 2 Dokument sein.

Zum anderen stagniert die Weiterentwicklung des derzeitigen Webs, weil es beim W3C dort an Manpower fehlt. Konkret fällt mir das besonders bei CSS auf. CSS 2, Revision 1, das im wesentlichen eine Anpassung von CSS 2 an die Realität der Browser sein soll, ist seit 2002 in der Mache, die derzeitige Roadmap sagt den Status REC derzeit für Mitte 2006 an. Wobei, wenn ich den Tonfall auf der öffentlichen Mailingliste richtig querlese, dann wird wohl gehofft, dass eine der vom W3C geforderten zwei Implementierungen an denen der Status REC festgemacht wird, der IE sein soll. Nun jaa... Und das ist CSS 2.1, wo es eigentlich nix neues gibt. CSS 3 .. wird ja schon langsam teilweise in die Browser gestopft, aber toll isses da auch nicht. Das W3C hat endlich mal die schon peinlich werdende Roadmap dafür aktualisiert, prognostizierte Endtermine liegen so um das Jahr 2008 rum, wobei vieles immer noch unausgegoren im Status Working Draft rumsteckt und sich jederzeit verändern kann. Wenn es denn Veränderung, Weiterentwicklung gibt, die CSS durchaus nötig hat. Und größere Weiterentwicklung hätte CSS durchaus nötig, das hat man inzwischen auch beim W3C erkannt, dass floaten nicht wirklich fürs Layout geeignet ist. In den letzten Monaten wurde groß eine neue Layoutmöglichkeit für CSS angedacht, wie die aussehen könnte. In den letzten Monaten. Also in der Mitte des Jahres 2005. Sieben Jahre nach CSS 2, fünf Jahre, nachdem es eine gute Implementierung (Mozilla) gab, mit der man das endlich mal in der Praxis ausprobieren und Erfahrungen sammeln konnte. Es mangelt dort nicht an Enthusiasmus, da wird schon fleissig gearbeitet, es mangelt aber eben an Manpower, so dass Innovation nicht wirklich geschieht. Es fühlt sich etwas doof an, Pixelschubser für Webstandards zu werben, die seit Jahren stagnieren.

Innovation kommt inzwischen weniger aus dem W3C. Die drei Browserentwickler Mozilla, Opera und Apple haben sich inzwischen in einer inoffiziellen Working Group zusammengefunden. Aus Unzufriedenheit mit bestimmten Standards des W3C haben sie eigene Spezifikation geschrieben, die sie für ihre Vision der Zukunft des Webs für gangbarer halten. Klar, sie wollen bzw. haben das als Vorschlag beim W3C eingereicht, aber mit geht es um die Innovation. Die hier außerhalb des W3Cs passiert. Die schon fragmentatisch in Browsern implementiert wird. Oder aus einem Bedürfnis des Browserherstellers entstand, wie Apples HTML- und CSS-Erweiterungen für das Dashboard. Dass da drei größere Mitspieler, die pro Standards sind, außerhalb des W3Cs arbeiten oder zumindest ein sehr detailfixiertes Brainstorming betreiben, finde ich doch recht signifikant, dass da was nicht in Ordnung ist.

Versteh mich nicht falsch, ich bin nicht gegen plötzlich gegen Webstandards eingestellt, dazu bin ich zu sehr Geek, hey, ich schreibe ja in einer Form des technischen Witzes durchaus seit Jahren eine inhaltslose Webseiten in einem der unbekanntesten und rigiden HTML-Standards, wo gibt. Es ist nur so, dass das für mich nix neues ist, CSS nutze ich seit sagenwirmal 99, CSS Layouts und den Verzicht auf Tabellenlayout und strukturelles Markup nutze ich seit 2001. Und inzwischen greift auch der Mainstream das auf, siehe stern.de und ähnlich prominente große Seiten. Nach den großen Grabenkämpfen des Jahres 2002 ist hier auch im Forum (zumindest unter den Stammpostern) diese Einstellung vorherrschend, schon fast zu dogmatisch, „junge Validatorfanatiker“ hieß es mal so wunderbar treffend. Es verbreitet sich immer mehr im Web, ich sehe da positiv in die Zukunft, langsam wird es Mainstream.

Mit yet another Initative kritiklos* gegenüber den bestehenden Standards rum zu hüpfen, mit dem Armen wedeln und zu Leute aufzufordern, mit auf den seit Jahren rollenden Zug aufzuspringen finde ich dann ... nun ja .. eher öde; es ist nicht wirklich das, was mich derzeit am Web interessiert.

* Kleine Anmerkung: Ich will den Webkrauts natürlich nicht unterstellen, das zu sein, ich sehe nur bei den Aufrufen die Gefahr desselben. Wenn ihr euch wirklich von den ganzen Pro-Webstandards-Apologeten da draussen differenzieren wollt, dann stürzt euch doch mal auf recht vernachlässigte Standards, die aber durchaus sehr viel mehr Aufmerksamkeit bedürfen, nämlich auf die Web Content Accessibility Guidelines und deren kommende zweite Edition. Nach technischen Standards geschriebene, validierende Seiten sind für Browser ganz toll, dass sie aber für Menschen wirklich gut benutzbar sind, ist dadurch noch laaaaange nicht sicher gestellt. Da krankt das derzeitige Web wirklich dran.

Und noch eins: Der Name Webkrauts ist eine wunderbare Schöpfung. ;)

Tim