Mathias Bigge: big@boss.com, oder Einstein hatte so recht.

Beitrag lesen

Hi Sven,

interessante Überlegungen zum Thema Medien...

[...] "Medienkompetenz" [...] Die Leute können mit dem Medium Internet einfach noch nicht umgehen.

Stimmt, obwohl es auch andere Effekte gibt:

  • Grundvertrauen: man erwartet, dass niemand einen ohne Grund angreifen und schädigen will, das tut man im Straßenverkehr auch
  • mangelnde Kenntnisse: irgendwo ist hier im Thread ein Posting, dass deutlich zeigt, dass der Verfasser nicht wusste, dass sich hinter der Endung pif eine ausführbare Datei verbergen kann
  • niedrige Aufmerksamkeitsschwelle: mechanisches Abarbeiten zahlreicher E-Mails, übliche Gefahrensignale fehlen, etwa HTML-Tags, bunte Farben, Stichworte wie Sex oder Reichtum usw.
  • unberechtigtes Vertrauen auf die Softwarestandards wie Microsoft, blankes Entsetzen, wenn man erfährt, wie unsicher die Standardtools sind

[...] mündliche Berichte. Jemand reiste durch die Lande, hörte einerorts eine Geschichte, und erzählte sie andernorts weiter.

Auch das gibt es heute noch in Alltagsmythen. Interessant ist hier der "Beglaubigungsmechanismus": stets ist die Geschichte dadurch verbürgt, dass sie jemandem aus dem Bekanntenkreis des Erzählers passiert ist (irgendwo gibt's dazu Sammlungen, eine unter dem Titel "Die Spinne in der Yucca-Palme")

Bücher [...] Die Geschichten wurden also "echter".

Motto: "Hier steht es schwarz auf weiß." aber es gibt auch: "Lügen wie gedruckt" Manchmal bin ich auch als Medienmensch überrascht, welche Lügen man gedruckt ohne Rechtsfolgen verbreiten darf.

Zeitungen [...] Berufswelt, die sich ausschließlich mit dem Recherchieren von Wahrheiten befasste, um sie in der Zeitung zu berichten. [...] Bei der Zeitung, da arbeiten Profis. Die schreiben, was wahr ist.
Radio und Fernsehen [... ]handfeste Beweise für ihre Wahrheit: Die sogenannten O-Töne und Bilder vom Geschehen.

Hier wird's natürlich kompliziert. Die Frage ist zuerst einmal, ob die Wahrheitsfrage überhaupt für den Großteil medialer Produktionen wichtig ist. Du weißt es selbst, das ist nicht der Fall. Du stellst dem aber etwas zu einseitig den Profitbegriff gegenüber. So, als werde die Wahrheit im Profitinteresse verfälscht.
Beispiele, die ich für typisch halte, sind dagegen:
1. Das knapp bekleidete Mädchen, das jeden Tag mit einem kleinen Text in der Bildzeitung vorgestellt wird: "Das ist Conny. Heute war es ihr im Büro zu heiß. Deshalb ist sie....."
Ich denke, dass auch ein Großteil der Leser weiß, dass es völlig unwahrscheinlich ist, dass hier Wirklichkeit dargestellt wird. Es geht vielmehr um ein Spiel mit den unbewussten Grenzen und Normen. Wie kann man eine Frau darstellen, wie sehen Männerträume von der Verfügbarkeit der Kolleginnen aus usw. Auch Harald Schmidt betreibt im Grunde nichts anderes als diese Disziplin der Spannungserzeugung durch Grenzgänge und sexuelle Anspielungen.
2. Der kleine Magazinbeitrag
Lokal etwa Beiträge wie "Die letzte Hutmacherin von ..."; Bericht über die "Kinderferienparty", überregional etwa "der Genfer Autosalon" oder "Großer Preis von ..."
Hier geht es um einen gewissen Unterhaltungswert durch skurile oder irgendwie bildlich interessante Ereignisse, um die Darstellung einer heilen Welt und dergleichen.
Der aufklärerische Impetus, die Zielrichtung Wahrheit fehlt völlig.
3. Die gesamte rein fiktionale Welt der Krimis, Filme und Serien
4. Unterhaltung
5. Morgenmagazine
6. Talkshows
7. Dauerwerbesendungen
....

[...] bei Medien arbeitenden Menschen auch solche, die hinter der Wahrheit hinterher sind, aber primär sind zumindest deren Chefs hinter dem Geschäft her [...] Medienskandale [...] Es wird also immer manipuliert und eine Story so hingedreht, dass sie gut ins Bild passt - vollkommen unabhängig von den zugrundeliegenden Fakten.

Auch Nachrichten sind ein Geschäft, richtig, die Frage ist hier natürlich, welche Kriterien die Kunden an das Produkt anlegen und ob Wahrheit hier ein Kriterium ist. Viel schwieriger ist das Kriterium "Auswahl", aber das wäre ein eigenes Thema.
Was ich für problematisch halte, ist der Begriff "Manipulation", der unterstellt, als würde in den Medien die Wirklichkeit gezielt verfälscht, um bei den Zuschauern bestimmte Effekte zu erzielen. Nehmen wir das Beispiel der Irak-Krise: Gibt es hier eine Wahrheit, die die Redaktion verschweigt, um die Menschen für die amerikanischen Kriegspläne zu begeistern? Das unterstellt einen Komplott der Medienmacher und Politiker gegen die Masse der Zuschauer, um sie zu bestimmten Verhaltensweisen und Denkmustern zu bewegen, ohne dass die Manipulierten das durchschauen.
Tatsächlich versuchen Politker und Militärs die Medien zu kontrollieren, ihnen gezielt die Bilder zur Verfügung zu stellen, die in ihrem Sinne wirken, ihnen die weniger erfreulichen vorzuenthalten. Der Journalist steht jetzt vor einem Dilemma: Soll man die von der US-Armee gelieferten Bilder bringen und anschließend in einem Kommentar Distanz oder Skepsis zeigen. Kann man anderen Quellen vertrauen, etwa dem irakischen Staatsfernsehen? Gibt es die Möglichkeit, selbst zu recherchieren? Wie man mit diesem Dilemma umgeht, ist seit Jahren ein Thema unter Medienleuten, es ist zu komplex die Problematik hier anzureißen. Aber es sind meines Erachtens andere Mechanismen wichtig als die Vorstellung bewusster Manipulation. Etwa Ängste und Vorurteile bezüglich der arabischen Welt auch der Journalisten. Etwa die Verhinderung objektiver Recherche. Etwa der Wunsch nach Ordnung diffuser Sachverhalte im Sinne der Reduktion von Komplexität.

[...] das Internet

Hier wird es jetzt völlig schwierig, weil die Art der gebotenen Seiten derart unterschiedlich ist. Ich halte folgende Merkmale für wichtig:
1. Es gibt Interaktivität, wie sie die anderen Medien nur selten bieten, etwa durch Chats, Pinwände, Foren, eigene Seiten usw., das sehe ich als große Hoffnung
2. Es gibt eine wesentlich breitere Informationsbasis, etwa im Beispiel Irak die Seiten arabischer Staaten, der internationalen Presse, private Seiten, oppositionelle Medien usw.
3. Es gibt eine Maschinerie zur Informationsverwaltung von Google bis zu spezialisierten Datenbanken. Kein Leitartikler hatte vor 20 Jahren eine auch nur annähernd vergleichbare Informationsbasis, wie sie sich heute jeder gebildete Mensch verschaffen könnte.

Beispiel Hoax-Mails [...] offiziell anerkannte Experten [...] typischerweise von jemandem, den man kennt.

Das und das Gefühl, seinen Freunden helfen zu müssen, oder sich als Kenner auszuweisen.

Die Menschen sind also einfach nicht medienkompetent für das Internet. Das wird wahrscheinlich auch noch eine ganz lange Zeit so bleiben - sofern nicht in den Schulen das Internet und die Medienkompetenz Bestandteil des Unterrichts werden.

Wer erzieht aber die Erzieher, möchte man da mit Marx fragen...

  1. Leite keine Mail weiter, die du nicht verstehst, die aber die Weiterleitung von dir verlangt.
  2. Leite keine Mail, von deren Sinn du nicht absolut 100% überzeugt bist, nur auf Verdacht weiter, weil sie ja vielleicht doch stimmen könnte.

Die wichtigsten Regeln, meiner Meinung nach. Und: "Klicke nichts an, solange Du mit IE oder Outlook mit Standardeinstellungen unterwegs bist, solange Du nicht genau weißt, was dann passiert!"

Ich fände es interessant, die Diskussion zum Medienthema auch genauer auf das Netz zu beziehen: Was sind die wichtigsten Kriterien für die Erstellung, Bewertung und den Konsum von Webinhalten neben Wahrheitsfragen und Abbildung von Realität? Es fragt sich inzwischen: Gibt es überhaupt außerhalb der medialen Wirklichkeit überhaupt noch einen Vergleichsmaßstab, der es erlauben würde, die traditionelle Wahrheitsfrage zu stellen. Irgendwo hinter all den Bildern und dem Gerede vollzieht sich real etwas, sterben Menschen, wird gefoltert, getötet, zerstört. Wie kann man überhaupt noch zur solchermaßen verborgenen Realität vordringen, wenn es selbst im eigenen Leben kaum noch gelingt, ein realistisches Bild von sich selbst und seiner Umwelt zu entwickeln?

Es gibt sie, die Suche nach der unmittelbaren Realitätserfahrung, nach dem Ausbruch aus der Abstraktheit unseres Lebens, den Wunsch nach Unmittelbarkeit neben den genormten Konsumwelten und Mensch-Maschine-Kopplungen, aber meist dominiert doch der Wunsch nach normgerechten Gesprächsbeiträgen und Lebensäußerungen, nach Anpassung und ewigem Leben. Nur manchmal eröffnet sich überraschend ein Blick auf die Wirklichkeit, in der Angst vielleicht, in einem dumpfen Gefühl, dass das Gerede von Bush und Saddam tausenden von Menschen den Kopf kosten wird und schon gekostet hat.

Viele Grüße
Mathias Bigge