Hi Christoph,
Da kam am Abend eine sehr merkwürdige Sendung, in der Günter Schabowski ein Zettelchen aus der Anzugtasche fischte und irgendwas davon sagte, daß Ausreise jederzeit möglich wäre. Ich fands komisch, wußte damit nix anzufangen, ärgerte mich darüber, daß ich keinen anderen Sender kucken konnte, machte das Ding aus und ging erstmal schlafen.
Damals war ich Redakteur an einer Tageszeitung, die es heute nicht mehr gibt.
Ich hoffe nicht, weil Du das deutsche Jahrhundertereignis verpennt hast *g*
Aber verstehen kann ich Deine Redaktion gut: Erstmal die Dinge real werden lassen, das braucht manchmal seine Zeit.
Und in den Westen bin ich dann am 14. November das erstemal gegangen. Am Bahnhof Friedrichstraße ...
Mein Gott, der Bahnhof Friedrichstraße, da treffen sich die Erinnerungen Ost und die Erinnerungen West. Für mich war das immer wieder ein Schock: die Laufwege für Schäferhunde, die Durchsuchungen, die bewaffneten Posten auf den Brücken über den Zügen, die harschen Kontrollen der Reisenden aus dem Osten. Für uns war's nur eine Treppe und für 25 DM Eintritt war man drüben, für die anderen ein unüberschreitbares Hindernis, bis auf die DDR-Rentner, die in den Osten schleppten, was sie eben noch tragen konnten, Ersatzteile, seltene Waren, Kleidung, wie man auf den Röntgenschirmen der DDR-Grenzer sehen konnte.
Plötzlich war man mitten drin im real existierenden Sozialismus, der für mich als Westler erstmal ungeheuer komisch wirkte, etwa in der Sprache der Stadtbildführer ("Dieses Hotel hat Japan für uns gebaut!") und ihrem Verbiegen der Geschichte, oder im Verhalten der Taxifahrer, die nicht die geringste Lust hatten, durch die Gegend zu fahren. Dann die erschrockenen Gesichter, wenn man fragte, bis wann die Prachtstraße eigentlich Stalinallee geheißen hätte und ob man sie direkt nach dem 20. Parteitag umbenannt hätte.
Probeweise habe ich mich oft eingereiht in die sozialistischen Warteschlangen, im Palast der Republik zum Beispiel oder vor einem anderen Restaurant, wurde dann aber immer erkannt und misstrauisch beäugt. Die irritierende Festtagsgarderobe der DDR-Bürger in den Nobelhotels, er in Original-Jeans, sie im kleinen Schwarzen. Dann die eigenartigen Preise (3,12 Mark) und die Kantinensprache im Interhotel ("Sättigungsbeilage", "Sachertorte mit Persipan").
Dann die Stasi-Knechte unter den Linden in ihren Kunstlederjacken und albernen Hütchen, zumindest die, die man sehen sollte. Die Rituale an der Grenze, wo man die Frage nach dem Reiseziel auf keinen Fall mit "Ost-Berlin" beantworten durfte, sondern mit "Berlin, Hauptstadt der DDR", wenn man keine Schrereien haben wollte.
In den Spätnachrichten heute heißt es, jeder dritte "Wessi" wüßte nicht, daß die Mauer am 9. November abends (wegen eines Versprechers, den Schabowski im DDR-Fernsehen geäußert hatte) geöffnet worden ist.
Ich habe die Ereignisse damals gebannt im Fernsehen verfolgt, eben einen der wenigen Augenblicke in einem Leben, in dem Geschichte manifest wird. Ich habe mich mit den DDR-Bürgern gefreut, die mit ihren Klapperkisten kurz darauf unsere Straßen durchkreuzten, aber gleichzeitig auch eine Ahnung davon, was da an Problemen auf uns zukommt.
Wie geht euch das denn so? Habt ihr das damals gleich kapiert, was da losgeht, wenn man ein Loch in die Mauer haut?
Ja, schon vorher, bei den Botschaftsflüchtlingen, war mir klar, dass das das Ende der DDR bedeuten würde, wenn es auch noch eine Zitterpartie gab, ob alles friedlich enden würde. Insofern war das eine wirkliche Sternstunde!
Viele Grüße
Mathias Bigge