Der Martin: Igor Stravinsky - Le Sacre du Printemps

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Hallo Felix,

danke für deine laaange Stellungnahme.

ich fürchte, Du hast meine Reaktionen zum Teil missverstanden.

Ja, das merke ich nun auch. Du die meinen allerdings auch. ;-)

Pauschale Aussagen, die sich irgendwie auf alle Stücke (oder eben keines) anwenden lassen, sind mir ein Graus. [...]
Klar, was ich meine?

Ja, jetzt schon. Ich hielt das für eines dieser Drei-Minuten-Stücke mit einem halbwegs einheitlichen Gesamtbild wie etwa (nur um ein beliebiges Beispiel zu nennen, das mir spontan einfällt) den Gefangenenchor aus Nabucco. Wenn das Sacre so lang und so vielfältig oder kontrastreich ist, wie du sagst, dann ist eine Gesamtaussage in ein oder zwei Worten natürlich unzureichend.

Mich hätten die näheren Umstände interessiert. In BW müssen Schüler einmal im Jahr eine sogenannte GFS ableisten. Diese kann auch in Referatform gehalten werden. Andere Referate könnten auch als Strafarbeit verabreicht werden...

Okay, oder sie werden als normaler Bestandteil des Unterrichts vom Lehrer ab und zu eingefordert. In jedem Fall ist es aber für den typischen Schüler eine lästige Pflichtübung, die er nur widerwillig ableistet. Daher "muss".

Das Ziel des Schülers wäre dann, ein paar Fakten und Meinungen zusammenzutragen und so aufzubereiten und vorzutragen, "dass der Lehrer das gut findet".
*Seufz* Nein, der Schüler sollte dabei etwas lernen.

Ja, das ist das Ziel des Lehrers. Aber nicht das ehrliche Ziel des Schülers. Der möchte sich doch nur mit möglichst wenig Aufwand und trotzdem mit einem halbwegs brauchbaren Ergebnis (Note) durchmogeln, und er ist froh, wenn's endlich vorbei ist.
Völlig klar, dass diese Haltung kurzsichtig ist; völlig klar, dass es davon abweichend auch immer Schüler gibt, die den Unterrricht und die gestellten Aufgaben mit Engagement und Begeisterung mitmachen. Der Regelfall ist das aber wohl eher nicht.

Viele Abiturienten wissen ja bis nach dem Abi noch nicht, wie man ein Referat sinnvoll aufbaut, geschweige denn, wie man das Thema inhaltlich auf die kurze Zeit des Referats herunterbricht, welche Details man auswählt, und welche man dem Publikum besser vorenthält.

Das ist ein Grundproblem, sicher kein fachspezifisches. Ein Thema für Publikum aufzubereiten und vorzutragen habe ich auch erst während des Studiums ansatzweise gelernt, und erst im Beruf so, dass man das Ergebnsi als "brauchbar" bezeichnen mag. In der Schule war es für mich auch ein Graus, vorne zu stehen und der Klasse irgendwas vorzutragen; entsprechend unbeholfen und unausgereift war's dann auch. Aber ich glaube, das ist üblich so.

Wenn ich mir den OP durchlese, dann kann ich mir nicht sicher sein, ob der OP was vom Referatehalten bisher kapiert und gelernt hat.

Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, könnte es auch daran liegen, dass man die Kunst des Referatehaltens nie wirklich gelernt bzw. gelehrt hat. Das ist bei uns damals auch sehr stiefmütterlich gelehrt worden, wenn überhaupt. Die Anleitungen in die Richtung beschränkten sich eigentlich auf die Frage des Ablesens vom Blatt vs. freies Vortragen. Und ohne eine etwas spezifischere Anleitung kann man auch nicht vom Schüler erwarten, dass etwas Sinnvolles dabei herauskommt.

Der persönliche Eindruck kann bei mir nur als entweder Fazit oder Einleitung von Interesse sein, denn das Musikstück wirkt nicht auf jeden Hörer gleichermaßen.

Eben deshalb wäre es für mich der Kernpunkt. Ich ziehe mal Parallelen zum Deutschunterricht, weil ich glaube, dass eine Gedichtsinterpretation sehr große Ähnlichkeit mit der Interpretation eines Musikstücks hat.
Man kann ein Gedicht zunächst nach formalen Aspekten analysieren, etwa Stropheneinteilung, Versmaß, Reimform; bei einem Musikstück kämen noch die Melodieführung und die Instrumentierung dazu. Und dann kommt man aber an die Aussage, die das Stück rüberbringen "will". Da treffen wir dann auf die etwas abgenutzte Phrase: "Was mag sich der Künstler dabei gedacht haben?"
Genau hier fängt aber die eigentliche Interpretation für mich an - und sie ist in hohem Maße subjektiv, weil Musik (noch mehr als Literatur) von jedem individuell anders aufgenommen wird. Man merkt es ja auch bei zeitgenössischer Musik: Was für den einen eine Rock-Ballade ist, empfindet der andere als aggressives Geschrei.

Und was soll dann der Fachausdruck "Motiv"?

Fachausdruck? Oh, das war mir nicht bewusst. Unter "Motiv" hätte ich jetzt - analog zur Malerei - das Gesamtbild, die Wirkung auf den Betrachter/Zuhörer in ihrer Gesamtheit verstanden.

In der Musik verstehen wir unter einem Motiv eine kleinste Einheit eines Musikalischen Gedankens (also ein paar wenige Töne in markanten Tonabständen und in einer markanten Rhythmik - um es ganz kurz zu sagen).

Ist es das, was mein Musiklehrer als "Thema" bezeichnet hätte?

Ja - schon klar. Deshalb sind Deine Einwände hier nicht von der gewohnten Qualität, ...

Gut dass niemand sieht, wie ich jetzt rot werde. ;-)

In meiner Schulzeit war es verpönt und nicht gern gesehen, wenn wir Schüler uns aus anderen Quellen mit Wissen und vor allem vorgefertigten Meinungen versorgt haben. Wir sollten uns unsere eigenen Gedanken machen. Ist das heute anders?
Wie kannst Du Dir völlig ohne Hintergrundinformationen überhaupt sinnvolle eigene Gedanken machen, wenn Du wesentliche Aspekte des Werkes nicht kennst?

Man vertrat damals offensichtlich den Standpunkt, dass ein künstlerisches Werk auch dann eine gewisse Aussage vermitteln müsse, wenn man die Hintergründe nicht kennt. Ein Standpunkt, den ich eigentlich sehr vernünftig finde. Ein Autor oder Komponist, der eine Botschaft vermitteln möchte, hat sein Ziel verfehlt, wenn ich erst den Lebenslauf des Künstlers kennen muss, um diese Botschaft zu verstehen.
Typischerweise lief das bei uns so (ich ziehe jetzt wieder die Parallele zum Deutschunterricht), dass wir eine Kurzgeschichte, ein Gedicht, eine markante Aussage eines uns unbekannten Autors bekamen und z.B. als Klassenarbeit dieses Stück Text auseinandernehmen und interpretieren mussten. Seltener auch als Hausaufgabe. Wir hatten also gar nicht die *Möglichkeit*, uns aus anderen Quellen Informationen zu beschaffen, bzw. sollten dies bei einer Hausaufgabe möglichst auch bleiben lassen.

Das Problem an dieser Herangehensweise ist aber, dass der Schüler auf Gedeih und Verderb davon abhängig ist, ob der Lehrer die gleiche oder eine ähnliche Meinung vertritt: Im Deutschunterricht fiel z.B. meine Durchschnittsnote beim Übergang von Klasse 8 nach Klasse 9 von einer Zwei auf eine Vier ab - nur weil der Lehrer gewechselt hat, und dem neuen Deutschlehrer meine Darstellungen nicht gefielen, dem Vorgänger dagegen schon.

Gerade beim Sacre, das ein Ballett ist(!) existiert ja auch eine Handlung dazu (das ist bei Balletten so)

Ich weiß. Bei manchen anderen Musikstücken auch. Allerdings muss ich aus Erfahrung sagen, dass die Kenntnis der Hintergründe auch den Genuss des Werkes an sich schmälern kann. Beispielsweise mag ich die Peer-Gynt-Suiten von Edvard Grieg sehr gern; aber seit mir mal jemand in Kurzform erklärt hat, worum es bei dem zugrundeliegenden Drama von Ibsen eigentlich geht, hat die Begeisterung etwas gelitten. Okay, ich kann jetzt zwar die Musik und ihren Charakter ganz gut der handlung zuordnen und muss dem alten Grieg meinen Respekt zollen, wie gut er es verstanden hat, eine Geschichte in Musik umzusetzen. Nur der "Genussfaktor" dieses Werkes ist für mich leider beschädigt.
Was ich damit sagen will: Ich bin der Meinung, dass es viel wichtiger und richtiger ist, wenn man sich bei einem künstlerischen Werk hauptsächlich davon leiten lässt, "wie empfinde ich das Werk?", "wie wirkt das Stück auf mich selbst?".

Andere Quellen zu nutzen ist eine sehr sinnvolle Arbeitsweise, wenn man sich unbekannte Themengebiete erschließen will.

Natürlich. Im wissenschaftlichen Bereich schließe ich mich dir in diesem Punkt vorbehaltlos an. Im musischen Bereich ist das aber IMHO ein Killer.

Das mit den eigenen Gedanken ist ja schön und gut, jedoch kann man das erst dann auf eine sinnvolle Art und Weise tun, wenn man bereits genügend Einblick in das Themengebiet gewonnen hat - selbstverständlich _zuerst_ unter Zuhilfenahme anderer Quellen.

Nein, eben nicht - Musik, Poesie, Gemälde, Kunst überhaupt, sollte intuitiv wirken. Ähnlich wie bei einem Witz ist der Versuch einer Erklärung für mich Verrat am Werk und/oder am Künstler. Wenn ein Musikhörer von sich aus zu fragen und zu recherchieren anfängt, ist das in Ordnung - aber bitte nicht von außen initiiert.

Und was unter Schülern verpönt ist, ...

Das hast du missverstanden: Nicht unter Schülern, sondern unter Lehrern war es verpönt und nicht gern gesehen, wenn wir andere Quellen angezapft haben. Wobei damals "andere Quellen" hauptsächlich Sachliteratur war; vom Internet hat noch niemand gesprochen.

Dem OP kann ich nur empfehlen, sich meinen ersten Link auszudrucken

Nein, besser noch die verlinkte Seite, nicht den Link.

Hoffentlich konnte ich Dir meine (gymnasiale) Erwartungshaltung an ein Schülerreferat einigermaßen in ihren Grundzügen erläutern.

Ja, durchaus. Und sie weicht von der Erwartungshaltung meiner Lehrer vor gut zwanzig Jahren deutlich ab. Mit der grundsätzlichen pädagogischen Methode, musische Werke zu vermitteln, bin ich ausdrücklich nicht einverstanden. Aber das ist jetzt kein Argument gegen dich, das ist ein allgemeiner Punkt.

Schönen Sonntag noch,
 Martin

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Das einzige Problem beim Nichtstun: Man weiß nie, wann man damit fertig ist.